Shardik
Kette«, fuhr sie in einer Art Singsang fort. »Er hat keine Kette auf dem Weg nach Schlag-auf-Lee – « Dann brach sie beim Anblick Gensheds ab. »Radu, er kommt!«
Genshed blieb neben dem Knaben stehen, stieß ihn mit dem Fuß an, ließ sich auf ein Knie nieder, schob eines seiner Augenlider zurück und befühlte seinen Herzschlag. Dann stand er auf, blickte auf die anderen Knaben und nickte befehlend. Sie entfernten sich, und Genshed stand neben der Leiche Kelderek und Radu gegenüber.
Wie Feuer durch das Flußufer, wie das Wachstum der Weinranken durch den einsetzenden Winter unterbrochen wird, so erstarb ihr Mitgefühl und schwand angesichts von Genshed. Er sagte nichts, seine Gegenwart genügte, um ihr Gefühl der Hilflosigkeit, dem Knaben beizustehen oder ihn zu trösten, wie durch eine Linse auf einen Punkt zu konzentrieren. Wie zwecklos war ihr Mitleid, was konnte es erreichen? Genshed war überall um sie: in ihrer Erschöpfung, in dieser Waldwildnis ohne Nahrung und Obdach, in dem schimmernden Fluß, der sie einschloß, in dem leeren Himmel. Er sagte nichts, ließ sie durch seine bloße Gegenwart zu dem Schluß gelangen, daß sie einfach die geringen Reste ihrer Energie vergeudeten. Als er mit den Fingern schnipste, senkten sie den Blick und folgten, von Shara begleitet, den Knaben: sie blickten nicht einmal zurück. Sie und Genshed waren nun völlig einer Meinung.
Etwas weiter hatte Schreihals am Ufer haltmachen lassen. Sie legten sich zu den Kindern nieder, aber niemand fragte sie etwas. Genshed kam zurück, wusch sein Messer im Wasser, befahl Bled, als Aufsicht zurückzubleiben, und entfernte sich mit Schreihals stromaufwärts. Er kam nach einer halben Stunde zurück und führte die Gruppe sofort landeinwärts in die Wälder.
Als es Abend wurde, schleppten sie sich über eine lange, allmähliche Steigung aufwärts, der Wald rundum lichtete sich zusehends. Kelderek sah zwischen den Bäumen im Westen eine rote Sonne und stellte fest, daß das in ihm eine dumpfe Verwunderung hervorrief. Bei weiterer Überlegung wurde ihm klar, daß er seit der Abreise aus Lak kein einziges Mal die Sonne nach der Mittagszeit gesehen hatte. Sie mußten nun am Nordrand des Waldes angekommen sein.
Auf der Höhe wartete Genshed, bis alle Kinder ausnahmslos nach oben gekommen waren, bevor er den Weg durch das Unterholz in der unmittelbaren Umgebung des Waldes bahnte. Plötzlich blieb er stehen, blickte voraus und schirmte seine Augen gegen die Sonne ab. Kelderek und Radu, die hinter ihm standen, blickten auf das Nordende des schwierigen Landstrichs nieder, den sie nun von einem Ende zum anderen, vom Ufer des Vrakos bis zum Durchlaß von Linsho, durchquert hatten.
Die Luft war dick wie Honig, und darin bewegte sich langsam ein blendendes, goldenes Licht. Myriaden Stäubchen und Körnchen schwebten da und dort, ihr Glitzern schien das Licht vom Himmel zum Boden zu saugen und dort zu zersplittern und zu vermehren. Die abendlichen Sonnenstrahlen glänzten auf Blättern, auf den Flügeln umherschwirrender Fliegen und auf der Oberfläche des in anderthalb Kilometer Entfernung am Fuß des Hügels fließenden Telthearnas. Unmittelbar nördlich vor ihnen war die Aussicht in der Ferne durch die Berge begrenzt – zackige, eisenblaue Höhen, auf denen sich steile Waldkeile streifenförmig von den grünenden Vorhügeln nach oben zogen. Bei dem Blick auf dieses gewaltige Hindernis fiel Kelderek ein, daß er einmal – wie lange war das her? – die Kraft besessen hatte, Shardik in solche Berge wie diese zu folgen. Jetzt könnte er nicht einmal über das Flachland bis zum Fuß der Berge humpeln.
Wolken umhüllten die am weitesten östlich liegende Spitze, die turmartig über dem Telthearna aufragte und deren abschüssige Vorderseite fast senkrecht zum Fluß abfiel. Zwischen dem Wasser und den bewaldeten Felsen am Fuß der Berge erstreckte sich ein schmales Stück Flachland von wenig mehr als Bogenschußbreite – der Durchlaß von Linsho. Kelderek konnte Hütten erkennen und abendliche Rauchfahnen, die in Richtung der Deelguyer Wildnis zum anderen Flußufer zogen. Aus dem Durchlaß führte ein Weg hinaus, lief eine kurze Strecke neben dem Wasser und wandte sich dann landeinwärts die Hügel hinauf, überquerte sie in kaum einem Kilometer Entfernung und verschwand jenseits des Waldrandes links nach Südwesten. Auf dem offenen Rasen waren Ziegen angepflockt und eine Kuhherde graste – eine Kuh trug eine dumpf klappernde Glocke am Hals
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