Shardik
Eigenwillen. Doch seltsamerweise waren diese Gedanken günstig für ihn, sie brachten keine Schmach oder Trübsal mit sich und verwandelten sich schließlich in einen Strom von Demut und Dankbarkeit. Das geheimnisvolle Geschenk von Shardiks Tod, das wußte er nun, ging über alle persönliche Scham und Schuld hinaus und mußte hingenommen werden, ohne bei der eigenen Unwürdigkeit zu verweilen – ebenso wie ein seines Vaters Tod betrauernder Prinz seinen Schmerz beherrschen und stark sein muß, um als heiliges Vermächtnis die Verantwortung und die Sorgen des Staates zu übernehmen, die auf ihn gefallen sind. Trotz des Widerstands der Menschheit und allen Wahnsinns hatte Shardik sein Werk vollendet und war zu Gott zurückgekehrt. Es würde für seinen einstigen Priester, wenn er sich von seinem Schmerz und seiner Zerknirschung überwältigen ließe, nur bedeuten, daß er ihn nochmals enttäuschte, denn die diesem Werk innewohnende heilige Wahrheit war dem ureigenen Wesen nach ein Geheimnis, das weiter durch Gebet und Meditation erfaßt werden mußte. Und dann? dachte er.
Unter ihm lagen die Steine sauber an dem verlassenen Ufer. Die Welt, überlegte er, war sehr alt. »Tu mit mir, was Du vorhast«, flüsterte er laut. »Ich erwarte es.«
Die Fischer hatten den Fluß verlassen; unten im Dorf schien kein Mensch zu sein. So viel Stille am frühen Nachmittag erschien seltsam. Als er die Soldaten heranmarschieren hörte, erkannte er das Geräusch vorerst nicht. Da sie dann näher kamen, zerfiel das vorher einheitliche Geräusch in viele – Trampeln von Füßen, Klirren von Ausrüstungen, Stimmen, ein Husten, ein gerufener Befehl, eine scharfe Ermahnung des Treisatts. Es mußten viele Soldaten sein – mehr als hundert, schätzte er, und nach dem Lärm zu schließen, bewaffnet und ausgerüstet. Melathys schlief noch, als sie, für ihn unsichtbar, auf der Landseite der Hütte vorbeizogen.
Als ihre Schritte verklangen, hörte er plötzlich Stimmen, die unten Yeldashay sprachen. Dann wurde geklopft; Dirion öffnete die Tür und sagte einige Worte, aber so leise, daß er sie nicht verstand. In der Annahme, daß die Soldaten das Dorf verließen, fragte er sich, ob Melathys davon wußte, und wartete; bald darauf kam Dirion über die Leiter zum anderen Ende des Korridors heraufgestiegen. Als sie das Zimmer halb durchquert hatte, sah sie ihn, fuhr zusammen und schalt ihn, er solle ins Bett zurückgehen. Er fragte lächelnd: »Was gibt es? Was geht denn vor?«
»Nun, natürlich der junge Offizier«, antwortete sie. »Er ist hier wegen der Saiyett – um sie zum Ufer mitzunehmen. Sie sind bereit für die Verbrennung, und ich muß sie wecken. Nun leg dich wieder ins Bett, mein Lieber.«
In diesem Augenblick erwachte Melathys so lautlos und schnell, wie der Mond hinter Wolken hervorkommt, schlug die Augen auf und blickte ohne eine Spur von Schläfrigkeit zu ihnen hin. Zu seiner Überraschung beachtete sie ihn nicht, sondern sagte schnell zu Dirion: »Ist es Nachmittag? Ist der Offizier gekommen?« Dirion nickte und ging zu ihr hinüber. Kelderek folgte langsamer, trat ans Bett und ergriff ihre Hand.
»Was geht hier vor?« wiederholte er. »Was wollen sie?«
»Unser Herr Shardik«, antwortete sie und blickte ihm ernst in die Augen. »Ich muß tun – was bestimmt ist.«
Er begriff und holte tief Atem. »Die Leiche?«
Sie nickte. »Der vorgeschriebene Brauch ist sehr alt – so alt wie Quiso. Sogar die Tuginda konnte sich nicht der ganzen Zeremonie entsinnen, aber es ist klar genug, was getan werden muß, und Gott wird das Beste, das wir zu bieten haben, nicht zurückweisen. Shardik, unser Herr, wird wenigstens eine passende und rühmliche Totenfeier bekommen.«
»Wie wird er bestattet?«
»Hat es dir die Tuginda nie gesagt?«
»Nein«, antwortete Kelderek traurig. »Nein; auch das habe ich zu lernen versäumt.«
»Er treibt auf einem brennenden Floß stromabwärts über den Fluß.« Sie erhob sich, ergriff seine beiden Hände und sagte: »Kelderek, Geliebter, ich hätte dir davon erzählen sollen, aber es ließ sich nicht mehr länger aufschieben, und du schienst mir sogar heute morgen noch zu müde und schwach.«
»Mir geht es gut genug«, sagte er fest. »Ich komme mit dir. Widersprich mir nicht!« Sie schien antworten zu wollen, doch er sagte: »Ich werde um jeden Preis mitkommen.«
Er wandte sich an Dirion. »Wenn der Offizier aus Yeldashay noch unten ist, bestelle ihm meinen Gruß und bitte ihn, heraufzukommen und
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