Shardik
Fackelschein erkennbar. Als einmal ein heftiger Aufschlag von besonders lauten Rufen gefolgt wurde, schnalzte die neben ihrer Lampe sitzende Dirion mißbilligend mit der Zunge. Sie sagte aber nichts zur Erklärung, und nach einiger Zeit fragte er sich nicht mehr, welchem dringenden Kriegserfordernis die Soldaten an diesem abgelegenen Ort wohl nachkämen, wo, soviel er wußte, kein Feind in bedrohlicher Nähe war. Er schlief ein, und als er erwachte, sah er den Widerschein des Mondlichts auf den Dachsparren und Melathys, die neben der Lampe saß. Irgendwo draußen rief ein Yeldashay-Wachtposten: »Alles in Ordnung« in dem ausdruckslosen, vorgeschriebenen Ton des Routine-Beobachters.
»Du solltest schlafen«, flüsterte er. Sie fuhr zusammen, kam ans Bett, beugte sich nieder und küßte ihn leicht, dann nickte sie lächelnd zum Nebenzimmer hinüber, wie um anzudeuten, sie wolle dort schlafen; in diesem Augenblick kam Dirion zurück. Als er jedoch viel später in der Nacht aus einem Traum von Genshed erwachte, schrie und sich wehrte, saß immer noch Melathys bei ihm. Er hatte irgendwie seinen verletzten Fingernagel angeschlagen. Es schmerzte stark, und sie tröstete ihn, wie man Kleinkinder oder Tiere beruhigt: »Schon gut, schon gut, bald ist der Schmerz fort, bald ist er fort, wart nur, wart ein wenig«, bis er fühlte, daß tatsächlich sie den Schmerz zum Schwinden brachte. Als das Dunkel ins erste Tageslicht überging, lag er wach und lauschte dem Fluß und den beginnenden Morgengeräuschen – den Vögeln, dem Klirren eines Topfes und dem Krachen von Zweigen, die jemand über dem Knie zerbrach.
Er wurde sich bewußt, daß er zum erstenmal, seit er Ortelga verlassen hatte, Freude an diesen Klängen fand und daß sie ihn, wie einst vor langer Zeit, mit Erwartung auf den kommenden Tag erfüllten. Eine Mahlzeit zu verzehren, sein Tagewerk zu vollenden, müde zum Feuer heimzukehren, eine Frau zu begrüßen, zu plaudern und zuzuhören – wenn man all das ungehindert tun konnte, dachte er, sollte man sein Glück tragen wie einen Kranz.
Als er aber gegessen und Melathys seine Verbände gewechselt hatte, schlief er wieder ein und erwachte erst kurz vor Mittag, da ein zufälliger Sonnenstrahl auf seine Augen fiel. Er fühlte sich kräftiger, hatte zwar noch Schmerzen, war aber kein hilfloses Opfer mehr. Nach einer Weile stellte er einen Fuß auf den Boden, erhob sich benommen, hielt sich am Bett fest und blickte sich um.
Sein Zimmer und ein zweites bildeten den Oberstock einer ziemlich großen Hütte; Bretterfußboden und -wände mit einem Dach in ortelganischem Stil aus Schilfrohr auf Zetlapapfählen. Auf der Ostseite, hinter dem Kopfende seines Bettes, lief ein Korridor, der durch eine Halbmauer abgeschlossen und zu dem fast unmittelbar darunter fließenden Strom offen war.
Er humpelte zur Korridormauer, lehnte sich daran und blickte über den Telthearna auf das Deelguy-Ufer in der Ferne. Draußen fischten Männer, ihr Netz hatten sie zwischen zwei Kanus ausgespannt. Die Strömung in der Flußmitte glitzerte, und nahebei, ein wenig zu seiner Linken, standen einige magere Ochsen und tranken im seichten Wasser. Es war so still, daß nach einer Weile ein Atemgeräusch an sein Ohr drang. Er wandte sich um und sah im Nebenzimmer Melathys schlafend auf einem niedrigen, groben Bett liegen, das dem seinen glich. Sie war nicht weniger schön im Schlaf mit geschlossenen Lippen, glatter Stirn und ihren langen, geschwungenen Lidern mit den dunklen Wimpern. Das war das Mädchen, das um seinetwillen in der letzten Nacht nur wenig und in der Nacht vorher gar nicht geschlafen hatte. Er war ihr durch Shardik wiedergegeben worden, den er einst verflucht hatte und töten wollte.
Er wandte sich wieder dem Fluß zu und blieb lange an die Halbmauer gelehnt, beobachtete die langsam segelnden Wolken und ihre Spiegelbilder im Fluß. Das Wasser war so glatt, daß die Spiegelbilder zweier Enten, die über eine weiße Wolke flogen, am Himmel kehrtmachten und stromaufwärts verschwanden, ebenso klar waren wie sie selbst. Er sah das mit dem vagen Gefühl, es schon früher einmal gesehen zu haben, konnte sich aber nicht entsinnen, wo.
Er richtete sich auf, um zu beten, konnte aber seinen verwundeten Arm nicht heben und mußte sich nach kurzer Zeit, da ihn die Schwäche überwältigte, wieder auf die Halbmauer stützen. Seine Gedanken ließen sich lange nicht in Worte fassen, sie kreisten nur um seine frühere Einfältigkeit und seinen
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