Shardik
Nacht zu beten gelernt, in der Shardik wiederkommen wird.«
»Es kommt aber vor, daß uns mehr zuteil wird als das, womit wir rechnen. Viele beten. Wie viele haben wirklich überlegt, was es bedeuten würde, wenn die Gebete erhört würden?«
»Was immer daraus werden mag, Saiyett, ich könnte niemals wünschen, daß er nicht wiedergekommen wäre. Trotz all meiner Angst könnte ich nicht wünschen, ihn nicht gesehen zu haben.«
»Auch ich trotz meiner Angst nicht. Ja, auch ich fürchte mich; aber ich kann Gott wenigstens danken, daß ich nie die wirkliche, die wahre Aufgabe der Tuginda vergessen habe – bereit zu sein, wirklich und ernsthaft, Tag und Nacht, für die Wiederkehr Shardiks. Wie oft bin ich nachts allein über die Terrassen gewandert und habe gedacht: ›Wenn dies die Nacht wäre – wenn Shardik jetzt käme – was sollte ich tun?‹ Ich wußte, ich sollte mich fürchten, aber die Furcht ist geringer« – sie lächelte wieder –, »geringer, als ich befürchtete. Jetzt mußt du mehr erfahren, denn wir sind die Werkzeuge, du und ich.« Sie nickte bedächtig, ihr Blick blieb ins Dunkel gerichtet. »Und was das bedeutet, werden wir, so Gott uns hilft, zur von ihm gewollten Zeit erfahren.«
Kelderek sagte nichts, und die Tuginda fuhr fort:
»Es geht um mehr als nur um Menschen, die sich flach auf den Bauch werfen – um viel, viel mehr.« Er schwieg weiter.
»Kennst du Bekla, die große Stadt?«
»Natürlich, Saiyett.«
»Warst du jemals dort?«
»Ich? O nein, Saiyett. Wie sollte ein Mann wie ich nach Bekla kommen? Aber viele meiner Felle und Federn wurden von den Händlern dorthin auf den Markt gebracht. Es ist eine Reise von vier, fünf Tagen nach Süden, das weiß ich.«
»Wußtest du, daß vor langer Zeit – niemand weiß, vor wie langer Zeit – das Volk von Ortelga in Bekla herrschte?«
» Wir waren die Herrscher von Bekla?«
»Ja. Wir beherrschten das Reich, das sich nördlich bis zum Telthearna, westlich bis Paltesh und südlich bis Sarkid und Ikat-Yeldashay erstreckte. Wir waren ein großes Volk – Kämpfer, Händler und vor allem Baumeister und Handwerker –, ja, wir, die wir uns heute in überdachten Schuppen auf einer Insel verkriechen und mit Pflügen und Hauen ein paar Meilen vom Festland entfernt unseren Lebensunterhalt zusammenkratzen.
Wir haben Bekla erbaut. Bis heute ist es wie ein Garten mit anmutig gemeißelten Steinen. Der Palast der Barone ist schöner als ein Lilienteich, über dem die Wasserjungfern schweben. Die Straße der Baumeister war damals voll von Boten reicher Leute aus nah und fern, die den Handwerkern Vermögen versprachen, damit sie kämen und für sie arbeiteten. Und wer sich dazu bequemte, reiste schnell, denn es gab breite, gesicherte Straßen bis an die Grenzen.
In jenen Tagen lebte Shardik unter uns. Er war bei uns wie jetzt die Tuginda bei uns ist. Er wechselte von einer leiblichen Behausung in die andere.«
»Shardik herrschte in Bekla?«
»Nein, nicht in Bekla. Shardik wurde verehrt und Shardik beglückte uns von einem einsamen, heiligen Ort an der Grenze des Reiches aus, zu dem die Bittsteller in Demut reisten. Was glaubst du, wo das war?«
»Ich kann es nicht sagen, Saiyett.«
»Quiso war es, wo die Bruchstücke von Shardiks Macht noch wie Fetzen an einer Hecke im Wind hängen. Und Beklas Handwerker machten die ganze Insel zu einem Tempel für Shardik. Sie bauten den Dammweg vom Festland nach Ortelga – den Dammweg, der jetzt zerschlagen ist –, denn die Pilgergruppen wurden, nachdem sie sich auf dem Festland bei den Zweiseitigen Steinen gesammelt hatten, zuerst nach Ortelga gebracht und machten dann die Nachtfahrt nach Quiso, so wie du vorige Nacht. Unsere Handwerker ebneten und pflasterten auch die Terrasse, wo Melathys dich gestern traf; und sie bauten über die davor liegende Schlucht die Bittstellerbrücke, einen Eisensteg, so schmal wie ein Tau, den die Fremden überschreiten oder aber zurückgehen mußten. Doch diese Brücke ist schon vor vielen Jahren eingestürzt – lange bevor wir, du und ich, geboren wurden. Wie du weißt, liegt hinter der Terrasse der Obere Tempel, der aus dem Fels gehauen wurde. Du hast sein Inneres nicht gesehen, denn du standest im Dunkel. Es ist eine hohe Kammer, sechs Meter im Quadrat, die in dreißigjähriger Arbeit, Stück für Stück, aus dem Felsen gehauen wurde. Und noch mehr, sie schufen auch – «
»Die Terrassen!«
»Die Terrassen: der Welt größter künstlicher Bau. Vier Generationen
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