Shardik
herübergeschwommene große Katze oder eine der riesigen Nachtschlangen, von denen Bel-ka-Trazet gesprochen hatte? Er erhob sich und rief wieder: »Ruhig, Shardik, mein Herr. Deine Macht ist von Gott.«
In diesem Augenblick pfiff irgendwo im Dunkel ein Mann. Kelderek erstarrte. Das Blut klopfte in seinem Kopf – fünf, sechs, sieben, acht. Dann pfiff der Mann, leise, aber unverkennbar, den Kehrreim eines Liedes: »Senandril na kora, senandril na ro.«
Gleich darauf faßte ihn Sheldra am Handgelenk.
»Wer ist das, Herr?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Warte.«
Das Mädchen spannte den Bogen fast unhörbar, dann führte sie seine Hand an den Griff des Messers in ihrem Gürtel. Er zog es heraus und schlich vorwärts. Links neben ihm brummte der Bär und hustete. Im Gedanken an seinen von unsichtbaren Feinden mit Pfeilen durchbohrten Herrn bebte Kelderek vor verzweifelter Eile und vor Zorn. Er bahnte sich schneller den Weg durch die Büsche. Sofort rief rechts von ihm aus dem Dunkel eine leise Stimme: »Wer ist da?«
Wer immer auch gesprochen hatte, zumindest befand sich Kelderek jetzt zwischen ihm und Shardik. Er starrte in die Richtung, konnte aber nur die gegen das blassere Dunkel – den freien Himmel über dem Fluß – schwarz hochragenden Baumstämme ausmachen. Ein leiser Wind bewegte die Blätter, und ein Stern blinkte hindurch.
Nun kamen Geräusche von Bewegungen, seinen eigenen ähnlich – das Knacken von Zweigen und das Rascheln von Blätterwerk. Plötzlich sah er, was er erwartet hatte – ein blitzartiges Vorbeizucken von einem Baumstamm zum nächsten; es war so nah, daß er erschrak.
Zehn Schritte – acht? Er fragte sich, ob Bel-ka-Trazet selbst so nahe sein könnte, und erinnerte sich zugleich an den Trick des Barons beim Teich, mit dem er den Bären abgelenkt hatte. Er tastete mit den Fingern nach einem Stein, konnte aber keinen finden, preßte eine Handvoll feuchte Erde zusammen und warf sie aufwärts durch den Raum zwischen den Bäumen. Sie fiel jenseits prasselnd auf die Blätter nieder, und er stürzte vorwärts. Dabei stieß er gegen den Rücken eines Mannes – eines großen Mannes, denn sein Kopf traf ihn zwischen den Schultern. Der Mann strauchelte, und Kelderek faßte ihn mit einem Arm um den Hals und riß ihn nach hinten nieder. Der Mann fiel schwer auf ihn, Kelderek wand sich unter ihm hervor und hob Sheldras Messer.
Der Mann hatte keinen Ton von sich gegeben, und Kelderek dachte: »Er ist allein.« Das beruhigte ihn ein wenig, denn Bel-ka-Trazet würde nicht so dumm sein, einen einzelnen Mann auszusenden, um mit Shardik und dessen bewaffneten und ergebenen Anhängern fertig zu werden. Er drückte ihm die Messerspitze an die Kehle und wollte Sheldra rufen, als der Mann zum erstenmal sprach.
»Wo ist Shardik, unser Herr?«
»Was kümmert das dich?« gab Kelderek zur Antwort und stieß ihn zurück, als er sich aufzusetzen versuchte. »Wer bist du?«
Erstaunlicherweise lachte der Mann. »Ich? Ach, ich bin ein Bursche, der aus Ortelga durch den Todesgürtel gekommen ist, nur um sich halb bewußtlos schlagen zu lassen, weil er im Dunkel pfiff. Hat Shardik, unser Herr, dich gelehrt, wie ein Wegelagerer in Deelguy einem Mann von hinten die Kehle einzudrücken?«
Ob er nun wirklich keine Angst hatte oder sie nur verbarg, jedenfalls hatte er es nicht eilig fortzukommen.
»Nachts durch den Todesgürtel?« wiederholte Kelderek, wider Willen erschrocken. »Du lügst!«
»Wie du meinst«, antwortete der andere. »Das ist jetzt unwichtig. Falls du es aber nicht wissen solltest – du bist selbst nur wenige Meter von dem Gürtel entfernt. Wenn der Wind sich dreht, wirst du den Rauch von Ortelga riechen. Rufe laut, und die nächsten Shendrons werden dich hören.«
Das also war der Grund für Shardiks Unruhe und dumpfe Furcht! Er mußte wohl die vor ihnen liegende Stadt gewittert haben. Angenommen, er wanderte vor Tagesanbruch in den Todesgürtel? »Gott wird ihn beschützen«, dachte Kelderek. »Vielleicht kehrt er um, wenn es Tag wird. Wenn nicht, werde ich ihm in den Gürtel folgen.«
Es fiel ihm auch ein, daß der Bär bis zum Morgen dem Verhungern nahe und daher noch wilder und gefährlicher sein würde; aber er verwarf den Gedanken und sprach wieder zu dem Fremden:
»Warum bist du gekommen? Was suchst du?«
»Bist du der Jäger, der Mann, der Shardik, unseren Herrn, als erster sah?«
»Ich heiße Kelderek, manchmal nennt man mich Zenzuata. Ich habe die Nachricht von
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