Shardik
nicht über die Gelter Berge klettern und in die abgelegenen Wälder marschieren müssen. Er hatte einmal, vor mehreren Jahren, noch als junger Offizier, an einer Expedition zum Südufer des Telthearnas teilgenommen, und das war eine betrübliche, unbequeme Sache gewesen; man kampierte in düsteren Wäldern oder organisierte Quartiere bei halbwilden Inselstämmen, die wie Frösche in den Flußnebeln lebten und wo es von Flöhen wimmelte. Zum Glück war man von der Gewohnheit, beklanische Truppen bis zum Telthearna zu schicken, fast ganz abgekommen, seit die Geheimdienstberichte von der Insel – wie hieß sie nur, zum Teufel? Itilga? Catalga? – so regelmäßig und verläßlich geworden waren. Einer von den weniger affenartigen Baronen wurde insgeheim von Bekla bezahlt, und offenbar verhielt sich auch der Großbaron nicht ablehnend gegenüber kleinen diplomatischen Bestechungen, vorausgesetzt, man wahrte den Schein, daß seine Würde und Stellung – sofern vorhanden – respektiert wurden. Santil-ke-Erketlis hatte in diesem Sommer zwei Berichte von der Insel erhalten. Der erste, der pflichtgemäß an das Hauptquartier nach Bekla weitergeschickt worden war, hatte zur Folge, daß die Armee Weisung erhielt, sie brauche auch diesmal keine Truppen in ein so entferntes, ungastliches Gebiet zu schicken. Eigentlich enthielt er nichts Schlimmeres als die Nachricht von einem außerordentlich weit verzweigten Waldbrand, der das jenseitige Ufer des Telthearnas verwüstet hatte. Im zweiten Bericht war die Rede von einem neuen Stammeskult, von dem befürchtet wurde, er könnte in blinden Fanatismus ausarten, wenn auch der Großbaron überzeugt zu sein schien, daß er ihn unter Kontrolle behalten könne. Die Reaktion aus Bekla auf den zweiten Bericht hatte noch nicht den Weg zur Nordarmee zurückgefunden, aber jetzt war es, gottlob, ohnehin zu spät in der Jahreszeit, um noch daran zu denken, eine Patrouille über die Gelter Berge zu schicken. Jeden Tag – jede Stunde konnte der Regen einsetzen.
Der Offizier hatte zu Ende gesprochen und blickte Gel-Ethlin nun schweigend an. Der runzelte die Stirn, schnaubte verächtlich, zum Zeichen, daß er einen so fadenscheinigen Unsinn noch nie im Leben gehört habe, und versprach, er werde am nächsten Morgen selbst die Abteilung inspizieren. Der Offizier grüßte und ging zu seiner Truppe zurück.
In diesem Augenblick traf ein Bote des Gouverneurs von Kabin ein, das fünfundzwanzig Kilometer weiter südlich lag. Der Gouverneur ließ mitteilen, er befürchte, der Regen könnte beginnen und das Heer sich nach Bekla zurückziehen, bevor es seine Stadt erreichte. In den letzten zehn oder zwölf Tagen sei das Niveau des Stausees von Kabin, von dem aus das Wasser durch einen Kanal in das hundert Kilometer weit entfernte Bekla geschleust wurde, so stark gesunken, daß die unteren Wände freigelegt worden seien und ein Abschnitt in der Hitze Sprünge bekommen habe. Sollte eine Katastrophe vermieden werden, so müsse man die Reparatur unverzüglich ausführen, bevor der Regen den Wasserspiegel wieder anhob; diese Arbeit in einem oder zwei Tagen zu vollenden, ginge jedoch über die lokal verfügbaren Möglichkeiten hinaus.
Gel-Ethlin erkannte, daß es sich da um einen Notstand handelte. Er schickte sofort nach seinem verläßlichsten, rangältesten Offizier und auch nach einem gewissen Hauptmann Han-Glat, einem Ausländer aus Terekenalt, der mehr als irgend jemand sonst in der Armee von Brücken, Dämmen und Erdbewegungen verstand. Als sie erschienen, berichtete er ihnen, was geschehen war, und gab ihnen freie Hand, Leute bis zur Hälfte des Gesamtbestandes auszuwählen, die in der besten Verfassung waren, und noch in der Nacht im Eilmarsch nach Kabin zu ziehen. Dort sollten sie sofort die Reparatur des Stausees in Angriff nehmen. Er selbst würde mit dem Rest der Truppe noch vor dem nächsten Abend in Kabin eintreffen.
Am Spätnachmittag zogen sie ab, die Soldaten murrten, aber meuterten wenigstens nicht. Viele hinkten, und das Marschtempo war langsam. Aber das war weniger bedenklich als ihre voraussichtliche Verfassung bei der Ankunft in Kabin. Vermutlich würde jedoch Han-Glat einige Stunden brauchen, um den Stausee zu besichtigen und zu entscheiden, was getan werden mußte, und schon das allein würde für sie etwas Ruhe bedeuten. Keinesfalls konnte er, Gel-Ethlin, vom Hauptquartier in Bekla wegen der Art, wie er die Sache in Angriff genommen hatte, kritisiert werden. Bei Einbruch der Nacht
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