Shardik
gehen und, falls Shardik betäubt worden sei, ihm das unverzüglich melden. Dann holte er einige Holzscheite, um Feuer zu machen, und setzte sich mit Numiss und den zwei Mädchen neben den Käfig, um auf Nachrichten zu warten. Keiner sprach, aber dann und wann bückte Kelderek hoch, runzelte die Stirn und stellte nach der Sternenbewegung fest, wie langsam die Zeit verging.
Als endlich Zilthe auffuhr und die Hand auf seinen Arm legte, hatte er nichts gehört. Er erwiderte ihren Blick, als sie ihn anstarrte und den Atem anhielt; ihr Gesicht war halb vom Feuer erhellt, halb im Schatten. Auch er lauschte, konnte aber nur die Flammen die Windstöße und einen Mann hören, der irgendwo hinter ihnen im Lager hustete. Er schüttelte den Kopf, sie aber nickte heftig, erhob sich und winkte ihm, ihr über die Straße zu folgen. Von Neelith und Numiss beobachtet, gingen sie ins Dunkel, waren aber noch nicht weit gekommen, als er stehenblieb, die Hände zum Sprachrohr formte und rief: »Wer ist da?«
Die Antwort »Nito!« war schwach, aber deutlich. Kurz darauf vernahm Kelderek den leichten Schritt des Mädchens und ging ihr entgegen. Es war zu erkennen, daß sie in ihrer Hast und Aufregung hingefallen war – vielleicht mehr als einmal. Sie war besudelt, zerzaust und hatte Abschürfungen an den Knien und an einem Unterarm. Sie wurde von Schluchzen geschüttelt, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Er rief Numiss, und sie trugen sie gemeinsam zum Feuer.
Im Lager herrschte Aufregung. Irgendwie hatten die Männer erraten, daß es Neues gab. Einige warteten schon bei dem Käfig, und einer breitete seinen Mantel für das Mädchen auf einem Stoß Planken aus, brachte einen Krug und kniete nieder, um ihre blutigen Abschürfungen zu waschen. Sie zuckte bei der Berührung mit dem kalten Wasser zusammen und begann dann, als käme sie wieder zu sich, zu Kelderek zu sprechen.
»Shardik ist bewußtlos, Herr, er liegt keinen Bogenschuß weit von der Straße. Er wurde mit Theltocarna betäubt – es hätte genügt, um einen starken Mann zu töten. Gott weiß, wann er erwachen wird.«
»Mit Theltocarna?« fragte Neelith ungläubig. »Aber – «
Nito begann wieder zu weinen. »Und Rantzay ist tot – tot! Hast du Kelderek, dem Herrn, erzählt, wie sie beim Fluß mit Shardik sprach?«
Zilthe nickte und starrte sie entgeistert an.
»Als Shardik an ihr vorbei und fort war, blieb sie eine Weile stehen, als habe sie wie ein Baum den Blitz auf sich gezogen. Dann folgten wir beide, sie und ich, allein den anderen, so gut es ging. Ich merkte – ich merkte, daß sie sterben wollte, daß sie dazu entschlossen war. Ich versuchte, sie zu veranlassen, sich auszuruhen, aber sie weigerte sich. Es ist noch keine zwei Stunden her, seit wir endlich zum Waldrand zurückkamen. Alle Mädchen erkannten, daß der Tod über ihr schwebte. Er lag über ihr wie ein Mantel. Aus Mitleid und Angst konnte keine zu ihr sprechen. Nach dem, was wir mittags bei dem Fluß gesehen hatten, wäre jede von uns gern an ihrer Stelle gestorben; aber es war, als treibe es sie fort, als wäre sie auf dem Wasser und wir am Ufer. Wir standen in ihrer Nähe, und sie sprach zu uns, dennoch waren wir von ihr getrennt. Sie sprach, und wir schwiegen. Als sie es dann befahl, brachte ich ihr die Schachtel Theltocarna, und sie ging auf unseren Herrn Shardik zu, als wäre er ein schlafender Ochse. Sie brachte ihm mit dem Messer einen Schnitt bei und mischte das Theltocarna mit seinem Blut; als er dann zornig erwachte, stand sie wieder vor ihm, so unerschrocken wie zu Mittag. Und er drückte sie an sich, und so starb sie.« Das Mädchen sah sich um. »Wo ist die Tuginda?«
»Befestigt die langen Taue an dem Käfig«, sagte Kelderek zu Balthis, »und laßt ihn von allen Männern ziehen. Ja, und auch von allen Frauen, außer den Fackelträgerinnen. Wir haben keine Zeit zu vergeuden. Sogar jetzt könnte es schon zu spät sein, um Ta-Kominion, den Herrn, zu erreichen.«
Nach knappen drei Stunden war die gewaltige Masse des Bären, dessen Kopf durch eine aus Mänteln grob zusammengenähte Kapuze geschützt war, mit Stricken den Abhang hinunter und über eine hastig aufgeschüttete Rampe aus Erde, Steinen und Planken in den Käfig gezogen worden. Die letzten Stangen wurden eingeschlagen, und der von vorn gezogene, hinten gestoßene Käfig rollte und polterte langsam durch das Tal in Richtung Gelt.
20. Gel-Ethlin
Es konnte gewiß nicht mehr als einen, höchstens zwei Tage dauern,
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