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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Klopfen kam keine Antwort, aber die Tür war nicht zugeschlossen. Ich öffnete sie und fand den »Rattenmann« in einem steifen Tweedanzug und mit randloser Halbbrille über seinen Schreibtisch gebeugt. Mit einem gelben Filzstift unterstrich er Teile eines Manuskripts. Die Jalousien an den Fenstern waren zum Teil vorgezogen und tauchten den Raum in ein fahles Licht. Fraziers Bart war wüst zerzaust, als ob er darin herumgerupft hätte.
    Mein »Hallo, Professor!«, rief einen finsteren Blick in seinem Gesicht hervor und ein Winken seiner Hand, das ebenso gut »Kommen Sie rein« wie »Gehen sie zum Teufel«, bedeuten konnte.
    Ein Stuhl mit steifer Lehne stand vor seinem Schreibtisch. Ich setzte mich darauf und wartete, während Frazier weiterhin unterstrich, er tat es mit unschönen, schlitzenden Bewegungen. Der Tisch war von Manuskriptstapeln bedeckt. Ich beugte mich vor und las das oben liegende. Ein Lehrbuchkapitel.
    Er editierte etwas; ich wartete. Das Büro hatte beigefarbene Wände, ungefähr ein Dutzend Diplome und Zertifikate, doppelreihige metallene Bücherregale auf rissigem Vinylboden. Kein maßgeschneidertes Design für diesen Fachbereichschef. Auf dem Regal aufgereiht standen Bechergläser - Tiergehirne in Formaldehyd. Das Zimmer roch nach altem Papier und feucht nach Nagetieren.
    Ich wartete lange. Frazier beendete ein Manuskript, hob ein anderes vom Stapel und fing an, daran zu arbeiten. Er brachte weitere gelbe Markierungen an, schüttelte den Kopf, drehte seine Barthaare, zeigte keine Absicht, aufhören zu wollen.
    »Alex Delaware«, sagte ich. »Absolvent von 1974.«
    Er schoss abrupt hoch, starrte mich an, strich sich die Jackenaufschläge glatt. Sein Hemd bauschte sich; seine Krawatte war ein handgemalter Horror, gerade uralt genug, um wieder modern zu sein.
    Er betrachtete mich. »Hmm. Delaware. Kann nicht sagen, dass ich mich erinnere.«
    Eine Lüge, aber ich ließ sie durchgehen.
    »Ich dachte, Sie wären ein Student«, sagte er. Als ob das seine Missachtung mir gegenüber erklärte. Die Augen wieder auf dem Manuskript, fügte er hinzu: »Wenn Sie auf eine außerordentliche Professur aus sind, müssen Sie damit warten. Ich empfange niemanden ohne vorherige Anmeldung. Verlagstermin.«
    »Neues Buch?«
    Kopfschütteln. »Revidierte Ausgabe meiner Paradigmata .« Blätter, blätter.
    Paradigmata des Lernens der Wirbeltiere. Seit dreißig Jahren sein Anspruch auf Ruhm.
    »Zehnte Auflage«, fügte er hinzu.
    »Gratuliere.«
    »Ja nun, ich glaube, Glückwünsche sind angebracht. Dennoch bedauert man es beinahe, sich der Mühen einer neuen Ausgabe zu unterziehen, wenn deren Lästigkeit offenbar wird - schneidende Bemerkungen kommerziell motivierter Verleger, neue Kapitel müssten hinein, ganz ungeachtet des Mangels an Rigorosität, mit dem sie erarbeitet, oder der Kohärenz, mit der sie dargestellt sind.«
    Er schlug auf den Manuskriptstapel. »Als ich diesen Mist lesen musste, wurde mir klar, wie tief die Standards gesunken sind. Der nach 1960 ausgebildete amerikanische Psychologe hat keine Ahnung mehr davon, wie man eine anständige Untersuchung durchführt, auch nicht die Fähigkeit, einen grammatikalisch korrekten Satz zu schreiben.«
    Ich nickte. »Verdammte Schande, wenn der Standard sinkt. Dann passieren auf einmal alle Arten von sonderbaren Dingen.«
    Er sah auf, verärgert, aber hörte zu.
    Ich sagte: »Sonderbare Dinge wie dieser unqualifizierte Partygockel, der zum Dekan wurde.«
    Das saß. Frazier hörte mit dem Textmarkieren auf und sah mich an - aber sein Augenkontakt war unstet. »In Anbetracht der Umstände ist das eine besonders rüde Bemerkung.«
    »Verändert nicht die Tatsachen.«
    »Was haben Sie nun auf dem Herzen, Doktor?«
    »Wie hat Kruse alle Regeln verbiegen können?«
    »Ihre Frage ist ausgesprochen geschmacklos«, meinte er. »Was wollen Sie?«
    »Nennen Sie mich einen besorgten Anhänger der Alma Mater.«
    Er sog an den Zähnen. »Jegliche Klagen, die Sie eventuell gegen Professor Kruse gehabt haben, sind durch seinen viel zu frühen Tod hinfällig geworden. Wenn es Ihnen wirklich, wie Sie sagen, um den Fachbereich geht, werden Sie meine Zeit oder die von jemand anderem nicht mit trivialen persönlichen Dingen in Anspruch nehmen. Wir sind alle entsetzlich beschäftigt - diese ganze furchtbare Geschichte hat das Getriebe gewaltig aufgehalten.«
    »Das möcht ich wetten. Vor allem der Mitglieder der Fakultät, die mit all dem Blalock-Geld rechneten. Kruses Tod hat die

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