Sharpes Festung
Geschütze heiß waren, doch selbst dann gab es keine Atempause für den Feind. Des Nachts konnten die Verteidiger die Breschen in Todesfallen verwandeln. Sie würden die steinernen Rampen verminen oder breite Schützengräben auf den Gipfeln der Breschen ausheben, oder neue Wälle hinter den Breschen anlegen. Doch die Briten ließen ein schweres Geschütz während der Dunkelheit feuern. Sie luden die Achtzehnpfünder mit Kartätschen und bestrichen das Gebiet der Breschen dreimal pro Stunde mit Musketenkugeln, um jeden Marathen davon abzuhalten, sein Leben auf den Schutthängen zu riskieren.
Nur wenige schliefen in dieser Nacht gut. Das Krachen des Geschützes wirkte unnatürlich laut, und selbst im britischen Lager konnten die Männer hören, wenn die Musketenkugeln gegen Gawilgarhs zertrümmerte Mauer prallten. Die Soldaten wussten, dass sie am Morgen zu dieser Mauer gehen und sich ihren Weg durch die Trümmer kämpfen mussten. Und was würde sie erwarten? Sie argwöhnten, dass der Feind oberhalb der Breschen Geschütze in Stellung gebracht hatte, um auf die Rampe zu feuern. Sie erwarteten Blut und Schmerz und Tod.
»Ich bin noch nie in einer Bresche gewesen«, sagte Garrard zu Sharpe. Die beiden Männer hatten sich bei Syud Sevajees Zelt getroffen, und Sharpe hatte seinem alten Freund eine Flasche Arrak gegeben.
»Ich auch nicht«, sagte Sharpe.
»Es soll schlimm sein.«
»Ja, das sagt man«, pflichtete Sharpe ihm bei. Es war vermutlich die schlimmste Tortur, die ein Soldat erleben kann.
Garrard trank Arrak, wischte sich über die Lippen und gab die Flasche Sharpe zurück. Er bewunderte Sharpes Uniformrock im Licht des kleinen Lagerfeuers. »Schönes Stück Tuch, Mister Sharpe.«
Clare Wall hatte dem Rock neue Manschetten verpasst. Sharpe hatte sein Bestes getan, um ihn ein wenig verkrumpelt und leicht staubig wirken zu lassen, doch er sah immer noch teuer aus. »Ah, nur ein alter Rock, Tom.«
»Komisch, nicht wahr? Mister Morris vermisst einen Rock.«
»Tatsächlich?«, fragte Sharpe. »Da hätte er mehr aufpassen sollen.« Er gab Garrard die Flasche und erhob sich. »Ich muss was erledigen, Tom.« Er streckte ihm die Hand hin. »Bis morgen.«
»Ich werde nach dir Ausschau halten, Dick.«
Sharpe führte Ahmed durch das Lager. Einige Männer sangen an ihren Feuern, andere schärften wie besessen Bajonette, die bereits rasiermesserscharf waren. Ein Kavallerist hatte einen Schleifstein aufgestellt, und viele Ordonnanzen brachten Degen und Säbel, um sie zu schärfen. Funken flogen in die Dunkelheit. Die Pioniere erledigten ihre letzte Arbeit, fertigten Leitern aus Bambus an, der aus der Ebene herauf transportiert worden war.
Major Stokes beaufsichtigte die Arbeiten, und seine Augen weiteten sich vor Freude, als er Sharpe durch den Feuerschein nahen sah. »Richard! Sind Sie das? Mann, das ist er tatsächlich! Das ist ein Ding! Und ich dachte, Sie wären beim Feind im Verlies eingesperrt! Sind Sie entkommen?«
Sharpe schüttelte Stokes die Hand. »Ich bin nie nach Gawilgarh gebracht worden. Ich wurde von einigen Reitern gefangen genommen«, log er, »aber die wussten anscheinend nicht, was sie mit mir anfangen sollten, und so ließen sie mich laufen.«
»Das freut mich sehr!«
Sharpe blickte zu den Leitern. »Wusste gar nicht, dass wir morgen mit Leitern stürmen.«
»Ist auch keine Eskalade geplant«, sagte Stokes, »aber man weiß nie, welche Hindernisse überwunden werden müssen, um in eine Festung einzudringen. Da ist es nur vernünftig, Leitern mitzunehmen.« Er schaute zu Ahmed, der jetzt einen Rock der Sepoys trug, den Syud Sevajee ihm gegeben hatte. Der Junge trug den roten Rock mit Stolz, obwohl es ein armseliges, fadenscheiniges und blutbeflecktes Ding war. »Ich muss schon sagen, du siehst wie ein richtiger Soldat aus.« Stokes sah den Jungen bewundernd an. Ahmed schlug die Hacken zusammen und stand still. Dann schulterte er seine Muskete und machte eine zackige Kehrtwendung. Major Stokes applaudierte. »Gut gemacht, Junge.« Dann blickte er Sharpe an. »Ich befürchte, Ihnen ist all die Aufregung entgangen, Sharpe.«
»Aufregung?«
»Ihr Captain Torrance ist gestorben. Anscheinend Selbstmord. Schreckliches Ende. Mir tut es für seinen Vater leid. Er ist ein Geistlicher. Armer, armer Mann. Möchten Sie mit mir einen Tee trinken, Sharpe? Oder brauchen Sie Schlaf?«
»Ich trinke gern einen Tee mit Ihnen, Sir.«
»Dann gehen wir zu meinem Zelt«, sagte Stokes und ging voran. »Ich habe
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