Sharpes Flucht
hungrigen Infanteristen in Schach zu halten. Der Offizier befand sich knapp hinter der linken Gruppe, er war an dem pelzbesetzten Umhang, der ihm von der linken Schulter hing, leicht von den anderen zu unterscheiden, und außerdem war an seiner grünen Satteldecke keine Tasche angebracht. Keiner der Dragoner blickte nach oben, weshalb hätten sie das auch tun sollen? Ihre Aufgabe bestand darin, die Straße zu bewachen, nicht die Dächer. Harper zielte nach unten und spannte den Hahn.
Hinter ihm stand Sharpe mit der Salvenbüchse. »Bist du bereit?«
»Ich bin bereit.«
»Du schießt zuerst«, sagte Sharpe. Harper musste sicher zielen, Sharpe hingegen brauchte mit der Salvenbüchse nicht zu zielen, denn sie ließ sich ohnehin nicht akkurat ausrichten. Es war einfach ein Tötungsinstrument, dessen sieben Kugeln wie eine Kartätschenladung aus den gebündelten Läufen schossen.
Harper richtete das Visier auf den Messinghelm des Offiziers, auf dem eine braune Feder befestigt war. Das graue Pferd scheute, und der Franzose beruhigte es, dann blickte er sich um, und in diesem Moment feuerte Harper seinen Schuss ab. Die Kugel durchschlug den Helm, sodass eine Fontäne von Blut kurz in die Höhe spritzte. Mehr Blut strömte unter dem Helm hervor, als der Offizier langsam zur Seite kippte, und im selben Moment feuerte Sharpe in die übrigen Dragoner hinein. Der Lärm der Salvenbüchse glich dem einer Kanone, und das Echo hallte von der Fassade des Lagerhauses wider. Rauch erfüllte die Luft. Ein Pferd wieherte schrill. »Lauf!«, sagte Sharpe.
Sie kehrten auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurück, kletterten durchs Fenster und eilten die Hintertreppe hinab, wobei Vicente ihnen mit den Frauen folgte. Sharpe konnte den Lärm auf der anderen Seite des Hauses hören. Männer schrien erschrocken auf, Pferdehufe klapperten laut übers Pflaster, doch dann hatte er die Vordertür erreicht, und mit den beiden Waffen über der Schulter zwängte er sich in die Menge. Sarah hielt sich an seinem Gürtel fest. Die Infanteristen schoben sich vorwärts, aber über ihre Köpfe hinweg konnte Sharpe sehen, dass sich die Dragoner, die von den Pferden gestiegen waren, in das hintere Haus drängten. Soweit Sharpe erkennen konnte, war nur ein einziger Mann im Sattel sitzen geblieben, und der hielt ein Dutzend Pferde am Zügel, aber die Pferde wurden von dem Ansturm der Infanteristen beiseitegedrängt, die auf einen Schlag begriffen hatten, dass das Lagerhaus nicht länger bewacht wurde.
Die Dragoner hatten genau das getan, was sich Sharpe von ihnen erhofft und was er von ihnen erwartet hatte. Ihr Offizier war tot, andere aus ihren Reihen waren verwundet, und ohne Führung kannten sie keinen Gedanken als den, sich an den Männern, die sie angegriffen hatten, zu rächen. Also stürmten sie das Haus und ließen das Warenlager unbewacht zurück, von einer Hand voll Dragoner abgesehen, die gegen den Ansturm der Männer, die jetzt auf die Türen zuströmten, machtlos waren. Ein Feldwebel der Dragoner versuchte sie aufzuhalten, indem er die flache Seite seines Degens benutzte, um auf die führenden Männer einzuschlagen, aber er wurde aus dem Sattel gezerrt, sein Pferd wurde zur Seite gescheucht, und dann wurden die großen Türen aufgezogen. Gewaltiger Jubel wurde laut. Die verbliebenen Dragoner ließen die Männer vorbeirennen, ihnen ging es nur noch darum, sich und ihre Pferde zu retten.
»Da drinnen wird Chaos herrschen«, sagte Sharpe zu Harper. »Ich gehe allein hinein.«
»Um was zu tun?«
»Das, was ich zu tun habe«, erwiderte Sharpe. »Du und Hauptmann Vicente passt auf die Mädchen auf.« Er drängte sie in einen Hauseingang. »Ich komme wieder hierher.« Sharpe hätte Harper lieber mitgenommen, denn die schiere Größe und Kraft des Iren hätten sich in dem überfüllten Warenhaus gewiss als von unschätzbarem Wert erwiesen, aber die größte Gefahr bestand darin, dass ihre Gruppe aus fünf Menschen im dunklen, verwirrenden Inneren des Gebäudes getrennt wurde, also war es besser, wenn Sharpe allein zu Werke ging. »Wartet auf mich«, sagte er, dann gab er Harper sein Gepäck und sein Gewehr, und nur mit seinem Degen und der ungeladenen Salvenbüchse bewaffnet, bahnte er sich seinen Weg die Straße hinauf, an dem verängstigten Pferd des toten Offiziers vorbei und schließlich hinein ins Lagerhaus. Im Eingang drängten sich die Menschen, und als er erst einmal hineingelangt war, stieß er auf Männer, die die Kisten, Säcke und
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