Sharpes Flucht
seinen Weg durch die Massen erkämpfte – nur dass es einen solchen Weg schlicht nicht gab. Scharen von Männern in Todesangst blockierten die Schneisen zwischen den Haufen, also steckte Sharpe seinen Degen in die Scheide, warf seinen Proviantsack auf einen Stapel Kisten und kletterte an der Seite hinauf.
Jetzt floh er auf dem oberen Weg. Katzen rannten vor ihm davon. Rauch ballte sich zwischen den Dachsparren. Er sprang auf einen halb zusammengebrochenen Haufen von Mehlsäcken, setzte in Richtung Tür darüber hinweg und glitt an der hinteren Seite hinunter. Er zog den Kopf ein und rannte, trampelte über gestürzte Männer hinweg, setzte all seine Kraft ein, um dem Rauch zu entkommen, und brach durch die Tür hinaus ins Freie. Den Sack mit den Lebensmitteln hielt er noch immer umklammert, um ihn sicher zu bewahren, während er sich seinen Weg zurück zu dem Haus bahnte, wo er Harper zurückgelassen hatte.
»Gott schütze Irland.« Harper stand in dem Türeingang und sah sich das Chaos an. Rauch quoll aus den großen Türen, und noch mehr drang aus dem zerbrochenen Dachfenster. Soldaten mit Brandwunden stolperten hustend aus der Tür. Drinnen im Lagerhaus ertönten Schreie, und dann gab es eine weitere Explosion, als die Rumfässer auseinanderkrachten. Ein Lichtschein wie aus einem gigantischen Schmelzofen schlug nun aus den Türen, und der Lärm des Feuers glich dem Brüllen eines riesigen Flusses, der sich durch eine Schlucht wälzte.
»Haben Sie das getan?«, fragte Harper.
»Das habe ich getan«, antwortete Sharpe. Plötzlich fühlte er sich erschöpft, müde und hungrig wie ein Wolf, und dann gingen sie in das Haus, wo Vicente und die Mädchen in einem kleinen Zimmer warteten, das mit dem Bild eines Heiligen mit dem Stab eines Schäfers geschmückt war. Er sah Vicente an. »Bring uns irgendwohin, wo wir in Sicherheit sind, Jorge.«
»Wo gibt es an einem Tag wie diesem schon Sicherheit?«, fragte Vicente.
»Irgendwo weit weg von dieser Straße«, sagte Sharpe, und die fünf verließen das Haus durch die Hintertür. Als er sich umsah, stellte Sharpe fest, dass auch das Warenhaus neben dem von Ferragus Feuer gefangen hatte. Sein Dach brannte bereits. Offensichtlich waren mehr Dragoner im Anmarsch, denn Sharpe vernahm Hufschläge, die laut durch die engen Gassen hallten, aber sie kamen zu spät.
Sie gingen eine Gasse hinunter, dann eine andere hinauf, überquerten eine Straße und liefen durch einen Hof, in dem ein Dutzend betrunkene französische Soldaten wie tot dalagen. Vicente führte sie. »Wir gehen den Hang hinauf«, sagte er, nicht weil er glaubte, in der Oberstadt seien sie sicherer, sondern weil er dort zu Hause gewesen war.
Niemand beachtete sie. Sie waren einfach nur ein weiterer Haufen erschöpfter Soldaten, die durch die Stadt taumelten. In ihren Rücken herrschten Feuer, Rauch und Zorn.
»Was sagen wir, wenn sie uns ansprechen?«, fragte Sarah.
»Wir erzählen ihnen, wir seien Holländer.«
»Holländer?«
»Sie haben holländische Soldaten in ihren Reihen«, erklärte Sharpe.
In der Oberstadt war es ruhiger. Hauptsächlich Kavalleristen waren hier einquartiert, und ein paar von ihnen befahlen den eindringenden Infanteristen, sie sollten machen, dass sie wegkamen, aber Vicente führte seine Gruppe in einen Hof und ein paar Stufen hinunter, bis sie im Garten eines großen Hauses ankamen. Am Rand des Gartens stand ein kleineres Haus.
»Das Haus gehört einem Professor der Theologie«, berichtete Vicente. »Und seine Bediensteten wohnen hier.«
Das Häuschen war winzig, aber bisher schienen die Franzosen es nicht gefunden zu haben. Sharpe hatte auf dem Weg den Hang hinauf bemerkt, dass bei einigen Häusern ein Uniformrock im Eingang hing, um anzuzeigen, dass sich Soldaten in diesem Haus einquartiert hatten und dass dort nicht geplündert werden durfte. Also zog auch er seinen blauen Rock aus und hängte ihn an einen Nagel neben der Tür des kleinen Hauses. Vielleicht würde das den Feind abhalten, vielleicht aber auch nicht. Sie setzten sich zum Essen, waren allesamt ausgehungert, rissen das Salzfleisch und den harten Zwieback in Fetzen, und Sharpe wünschte, er hätte sich jetzt niederlegen und für den Rest des Tages schlafen können. Ihm war jedoch klar, dass sich die Übrigen genauso fühlen mussten. »Schlaft ein bisschen«, riet er ihnen.
»Und was ist mit dir?«, fragte Vicente.
»Jemand muss Wache stehen«, erwiderte Sharpe.
Das Haus hatte nur ein kleines Schlafzimmer, nicht
Weitere Kostenlose Bücher