Sharpes Flucht
Leroy brüllte allen zu, die Schüsse zu ignorieren. Lieutenant Slingsby wirkte, obwohl er am Abend zuvor zu viel getrunken hatte, jetzt so frisch und adrett, als gehöre er zur berittenen Garde von Windsor Castle. Er kam aus seinem Zelt, zupfte seinen roten Rock zurecht, rückte die Scheide seines Säbels in den richtigen Winkel und marschierte den Wachtposten hinterdrein. »Sie hätten auf mich warten sollen, Sergeant!«, rief er Harper nach.
»Ich habe ihm gesagt, er soll gehen«, sagte Sharpe.
Slingsby wirbelte herum. Seine hervorquellenden Augen wirkten beim Anblick von Sharpe überrascht. »Morgen, Sharpe!« Der Lieutenant klang unverschämt gut gelaunt. »Gütiger Himmel, so ein blaues Auge sieht man aber selten! Sie hätten gestern Nacht ein Beefsteak drauflegen sollen, ein Beefsteak!« Slingsby, der diesen Rat amüsant fand, brach in bellendes Gelächter aus. »Wie fühlen Sie sich? Besser, dessen bin ich mir sicher.«
»Tot«, erwiderte Sharpe, dann wandte er sich wieder dem Kamm des Hügels zu, wo das Bataillon in einer Linie Aufstellung einnahm. Sie würden die ganze sich dahinschleppende Morgendämmerung über dort stehen bleiben, die ganze gefährliche Zeitspanne, in der der Feind einen Überraschungsangriff starten mochte. Sharpe, der vor der Leichten Kompanie stand, blickte die Reihe entlang und verspürte eine unerwartete Woge der Zuneigung für das Bataillon. Es bestand aus nahezu sechshundert Männern, die zumeist aus den kleinen Dörfern im Süden von Essex stammten. Eine ganze Reihe kamen jedoch auch aus London und eine Menge aus Irland, und die meisten von ihnen waren Diebe, Mörder und Narren, aber man hatte sie zu Soldaten geschmiedet. Sie kannten einer des anderen Schwächen, mochten einer des anderen Witze und waren der Ansicht, kein Bataillon auf Gottes Erde sei auch nur halb so gut wie ihres. Sie waren womöglich nicht so wild wie die Connaught Rangers, die sich jetzt in Bewegung setzten, um links vom South Essex Regiment ihre Stellung einzunehmen, und sie waren ganz gewiss nicht so modisch wie die Garde-Bataillone weiter im Norden, aber sie waren verlässlich, dickköpfig, stolz und voll Selbstvertrauen. Ein Anflug von Gelächter ging durch die Vierte Kompanie, und Sharpe wusste, ohne dass er den Anlass dazu gehört hatte, dass Horace Pearce einen Witz gerissen haben musste, und er wusste auch, dass seine Männer diesen Witz weitergeben wollten. »Ruhe in den Reihen!«, rief er und wünschte, er hätte den Mund gehalten, weil es so wehtat.
Eine portugiesische Einheit formierte sich auf der Rechten des Bataillons, und hinter ihnen stand eine Batterie portugiesischer Sechspfünder. Nutzlose Geschütze, dachte Sharpe, aber er hatte auf dem Hügelkamm auch genügend Neunpfünder gesehen, um zu wissen, dass die Kanonen heute ihren Teil des Abschlachtens erledigen konnten. Er vermutete, dass sich der Nebel bald legen würde, denn er konnte die kleinen Sechspfünder von Minute zu Minute deutlicher ausmachen, und als er sich nach Norden wandte und auf die Wipfel der Bäume hinter der hinteren Mauer des Mönchsklosters blickte, sah er, wie die weißen Nebelschwaden ausdünnten und zerfielen.
Sie warteten beinahe eine volle Stunde ab, aber kein Franzose ließ sich blicken. Der Nebel verzog sich vom Kamm des Hügels, doch das Tal füllte er wie ein mächtiger weißer Fluss noch immer aus. Colonel Lawford, im Sattel von Lightning, ritt die Front des Bataillons ab und tippte an seinen Hut, um den Gruß der Kompanien zu erwidern. »Wir werden uns heute bewähren«, erklärte er jeder einzelnen Kompanie, »und unserem Ruf Glorie hinzufügen. Tun Sie Ihre Pflicht, und zeigen Sie den Franzosen, dass sie ihren Meister gefunden haben!« Er wiederholte diese Ermutigung vor der Leichten Kompanie auf der linken Flanke der Linie, ignorierte den Mann, der fragte, was Glorie bedeute, und lächelte dann zu Sharpe hinab. »Kommen Sie und frühstücken Sie mit mir, Sharpe?«
»Ja, Sir.«
»So ist’s brav.« Ein Hornsignal ertönte von Norden her in einer halben Meile Entfernung, und Lawford drehte sich im Sattel um, um nach Major Forrest zu suchen. »Wir können die Männer entlassen, Major. Oder besser nur die Hälfte, denke ich.«
Die Hälfte der Männer blieb somit aufgestellt, die andere Hälfte wurde entlassen, um sich Tee zu machen, etwas zu essen oder sich zu erleichtern, aber niemandem war es gestattet, sich über die neu errichtete Straße hinweg zu entfernen und aus der Sichtweite des Bataillons
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