Sharpes Flucht
Sie sind der Meinung, dass sie kommen werden?«, fragte Read gespannt.
»Jedenfalls behaupten das ihre Deserteure. Wie sieht es mit Ihrer Schussfertigkeit aus?«
»In diesem Nebel? Ich würde nicht darauf vertrauen«, antwortete Read, dann runzelte er die Stirn. »Haben Sie sich verletzt, Sir?«
»Ich bin ein paar Stufen hinuntergefallen«, erwiderte Sharpe. »Ich habe nicht aufgepasst. Sie feuern die Geschütze am besten zum Wecken ab«, fuhr er fort. »Und ich warne das Bataillon.« Die sechs Männer der Wache hatten mit geladenen Musketen und Gewehren in der Dunkelheit auf dem felsigen Vorsprung auf Posten gestanden. Mittlerweile würde die feuchte Luft zweifellos die Ladung in den Zündschlössern durchdrungen haben, und man konnte darauf wetten, dass die Funken das Schießpulver nicht entzünden würden. Sobald also das Heer durch ein Hornsignal geweckt wurde, würden die Wachtposten eine frische Prise trockenen Pulvers in ihre Schlösser füllen und die Musketen abfeuern, um die alte Ladung zu entfernen. Wenn man die Leute davor nicht warnte, mochten sie denken, die Schüsse bedeuteten, dass die Franzosen durch den Nebel nach oben gestiegen waren. »Halten Sie bis dahin die Augen offen«, sagte er.
»Werden wir nach dem Wecksignal abgelöst?«, fragte Read nervös.
»Sie können sich nach der Aufstellung für zwei Stunden hinlegen«, sagte Sharpe. »Aber schärfen Sie Ihre Bajonette nach, ehe Sie sich aufs Ohr legen.«
»Glauben Sie …«, setzte Ensign Iliffe zu einer Frage an, die er jedoch nicht zu Ende führte.
»Ich weiß auch nicht, was uns erwartet«, gab Sharpe ihm dennoch Antwort. »Aber man geht nicht mit stumpfer Klinge in die Schlacht, Mister Iliffe. Zeigen Sie mir Ihren Säbel.«
Iliffe trug, wie es sich für einen Offizier in einer Kompanie von Plänklern gehörte, einen leichten Kavalleriesäbel. Es war ein alter, den er sich daheim billig gekauft hatte. Er hatte einen angelaufenen Griff mit abgewetztem Lederbesatz. Der Ensign übergab Sharpe die Waffe, der mit dem Daumen erst die gebogene vordere Schneide entlang und dann über den geschliffenen oberen Rand der hinteren Schneide fuhr. »Eine halbe Meile hinter uns«, sagte er zu Iliffe, »steht ein Regiment portugiesischer Dragoner. Wenn es hell ist, gehen Sie dort hinüber und suchen sich einen Schmied, und geben Sie ihm einen Schilling, damit er dieser Klinge eine Schneide verpasst. Mit diesem Säbel könnten Sie nicht einmal eine Katze häuten.« Er gab den Säbel zurück, dann zog er seinen Degen zur Hälfte aus der Scheide.
Es war ein schwerer Kavalleriedegen, eine lange Waffe mit gerader, breiter Klinge, die schlecht ausbalanciert und zu schwer war, sich in den Händen eines starken Mannes jedoch als brutales Werkzeug entpuppte. Als er die vordere Schneide betastete, erschien sie ihm scharf genug, aber er würde die Kante dennoch schärfer schleifen lassen. Das war eine Geldausgabe, die sich lohnte, fand er.
Er stieg wieder hinauf auf den Hügelkamm und schnorrte einen weiteren Becher Tee genau in dem Moment, in dem das erste Wecksignal ertönte. Es war gedämpft, weit entfernt, denn es drang aus dem Tal unter ihnen nach oben. Von den unsichtbaren Franzosen kam es, doch innerhalb eines Augenblicks erfüllten Scharen von geblasenen Hörnern und Trompeten die Anhöhe mit ihrem Lärm.
»Aufstellung, Aufstellung!«, brüllte Major Leroy. Durch den Nebel erkannte er Sharpe. »Morgen, Sharpe! Verdammt kalt heute, was? Was ist bloß mit dem Sommer passiert?«
»Ich habe den Wachtposten gesagt, sie sollen ihre Waffen leer schießen, Sir.«
»Mich wird das nicht schrecken«, sagte Leroy, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Ist das etwa Tee, Sharpe?«
»Ich dachte, Amerikaner trinken keinen Tee, Sir.«
»Loyale Amerikaner tun es, Sharpe.« Leroy, der Sohn von Eltern, die nach dem Sieg der Rebellen in den dreizehn Kolonien geflohen waren, stibitzte Sharpe den Becher. »Nur die rebellische Sorte verfüttert ihren Tee an die Kabeljaue.« Er trank und verzog angewidert das Gesicht. »Verwenden Sie keinen Zucker?«
»Nie.«
Leroy nippte noch einmal an dem Tee und schnitt eine Grimasse. »Es schmeckt wie warme Pferdepisse«, sagte er, trank den Becher aber nichtsdestotrotz leer. »Guten Morgen, Jungs. Zeit, sich zu bewähren! Los geht’s.«
Sergeant Harper hatte die neue Abordnung Wachtposten den schmalen Pfad entlang zu dem Vorsprung geführt, wo Sergeant Read seinen Männern befahl, ihre Waffen in die neblige Leere hinein abzufeuern.
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