Sharras Exil
vielleicht ist es nicht das Zusammentreffen von Umständen, das ich fürchte. Vielleicht hat sich Rafes Alptraum auf den einen Menschen in Thendara übertragen, der ebenfalls von Sharra berührt worden ist, und deshalb träumte auch ich …
Er warf sich den Mantel um die Schultern und sagte zu Marius: »Gehen wir. Erril, ruf meinen Leibwächter.« Er wollte den Mann nicht bei sich haben, aber er wusste genau, dass er nicht einmal zu dieser Stunde ohne jede Begleitung durch die Straßen von Thendara gehen konnte. Und selbst wenn er es könnte, hatte er doch seinem Großvater versprochen, es nicht zu tun.
Ich bin über zwanzig und ein erwachsener Mann. Aber als Erbe meines Großvaters, als Erbe von Hastur bin ich gezwungen, nach seinem Willen zu tun … Er wartete, bis der Mann in der Uniform der Garde erschien. Dann schritt er durch die Gänge der Comyn-Burg und hinunter in die leeren Straßen von Thendara. Marius hielt sich schweigend an seiner Seite.
Es war viele Jahre her, dass Regis in Kennard Altons Stadthaus gewesen war. Es stand am Rand eines großen, mit Kopfsteinen gepflasterten Platzes, und heute Nacht war es ganz dunkel bis auf ein einziges Licht an der Hinterfront. Marius führte ihn zu einer Seitentür. Regis befahl dem Leibwächter: »Warte hier.« Der Mann protestierte mit leiser Stimme – der Vai Dom solle vorsichtig sein, es könne sich um eine Falle handeln –, aber Regis antwortete empört, eine solche Bemerkung sei eine Beleidigung für seinen Verwandten, und der Leibwächter, dessen Kommandant Kennard schließlich einmal gewesen war und der wahrscheinlich auch Lew als Kadett und Offizier gekannt hatte, gab brummend nach.
Aber als Regis die Tür durchschritten hatte, dachte er, im Grunde wäre es ihm doch lieber gewesen, wenn er den Mann hätte mitnehmen können. Er neigte dazu, Marius zu vertrauen. Rafe Scott jedoch war Terraner, und die Terraner waren bekannt dafür, dass sie nicht viel von einem Ehrenkodex hielten. Außerdem war Rafe um mehrere Ecken blutsverwandt mit diesem Erzverräter Kadarin, der Lews geschworener Freund gewesen war, aber ihn verraten, geschlagen und gefoltert und unter Drogeneinfluss gezwungen hatte, Sharra zu dienen …
Aus dem Inneren des dunklen Hauses stieg ein Schrei auf, ein Schreckensgeheul, das nicht aus einer menschlichen Kehle zu kommen schien. Regis spürte hinter seinen Augen Flammen auflodern … doch er schloss den Schrecken, der aus den Gedanken des anderen zu ihm übersprang, sofort wieder aus. Es gelang ihm, seinen Geist abzuschirmen. Marius war bleich vor Angst. Regis fragte sich, ob der jüngere Mann genug Laran hatte, um das Bild zu empfangen, oder ob es nur der Kummer um Rafes Verzweiflung war.
Kennard hatte dem Rat bewiesen, dass Lew die Alton-Gabe besaß, und daraufhin war Lew anerkannt worden. Marius aber nicht. Hieß das, dass Kennards jüngerer Sohn völlig ohne Laran war?
»Vergiss nicht, Marius, ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas für ihn tun kann. Aber aufsuchen will ich ihn.«
Marius nickte und ging in einen Innenraum voran. Ein Diener stand zitternd an der Tür, zu verängstigt, um hineinzugehen. »Es hat sich nichts geändert, Dom Marius. Andres ist bei ihm.«
Regis grüßte den stämmigen, ergrauenden Mann, der darkovanische Kleidung trug, obwohl er, wie Regis wusste, Terraner war, mit einem kurzen Blick. Er war oberster Coridom oder Haushofmeister auf Armida gewesen, als Regis in seiner Kinderzeit dort weilte. Rafe Scott saß kerzengerade und starrte auf etwas, das Regis nicht sehen konnte. Als Regis ins Zimmer kam, brach er von neuem in dies infernalische, tierische Angstgeheul aus. Noch durch seine starke Abschirmung spürte Regis die sengende Hitze, Feuer, Qual … eine Frau mit flatterndem Feuerhaar …
Regis spürte, dass sich die Haare auf seinen Unterarmen, jedes einzelne Haar an seinem Körper sträubte und zu Berge stand, wie bei einem Tier, das seinen Erbfeind wittert. Marius hatte Andres in leisem, besorgtem Ton etwas gefragt, und der Mann schüttelte den Kopf. »Ich konnte nichts anderes tun als ihn festhalten, damit er sich nicht selbst verletzte.«
»Ich wünschte, Lerrys wäre in der Stadt«, seufzte Marius. »Die Ridenows sind darin ausgebildet, mit fremden Intelligenzen umzugehen – mit Wesenheiten, die nicht in dieser Dimension leben.«
Regis betrachtete das verzerrte Gesicht des jungen Mannes im Bett. Er hatte Rafe nur einmal kurz gesehen; am besten erinnerte er sich an ihn als Kind, als einen Jungen
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