Sheila Levine ist tot und lebt in New York (German Edition)
und wir redeten und redeten. Er hat für Kennedy gestimmt und ist ein Salinger-Fan.«
»Linda, es ist sechs Uhr morgens?«
»Ich hab nicht bemerkt, dass es schon so spät war. Sorry.«
»Ist schon in Ordnung. Ich würde gerne noch ein bisschen mehr von Rom sehen.«
»Würdest du auch gerne mal hier leben?«
»Nein, ich würde gerne hier sterben. Die Leichenhalle ist toll.«
Flight 432 leaving fora New Yorka
Wie anzunehmen war auch Charles in dem Flieger, da auch er einen NYU Alumni Charterflug gebucht hatte. Er und Linda ignorierten einander geflissentlich während des ganzen Flugs, was nicht so einfach war, da wir wieder in einer Reihe saßen. Und ich natürlich in der Mitte, was die Sache für Linda und Charles etwas einfacher, für mich aber umso schwieriger machte.
Die beiden Wochen waren wie in einem Fünf-Sekunden-Traum vergangen.
»Nicht zu fassen, dass es schon vorbei ist.«
»Wir müssen unbedingt wieder zurückkommen, Sheila.«
»Nächstes Jahr bist du wahrscheinlich verheiratet. Und du wirst mit deinem Mann reisen.«
»Kann gut sein!« (Was heißt hier »Kann gut sein!«? Warum sagst du nicht: Und du wahrscheinlich auch, Sheila, auch du wirst dann mit deinem Mann reisen? Interessieren würd’s mich schon, warum du das nicht sagst.)
»Wir sind jetzt seit einem Jahr in dieser Wohnung. Unglaublich. Die Zeit vergeht so schnell. Erinnerst du dich an diesen Typen in der Lobby, du hast mir nicht geglaubt, dass er schwul ist.«
»Du kannst es nicht beweisen.«
»Erinnerst du dich noch an die Halloweenparty …«
»Diese ganzen Jungs …«
»Und die erste Nacht dort …«
»War doch toll. Wir hatten so viel Spaß. Gut, dass ich nicht gleich nach dem College geheiratet habe. Wir haben so viel unternommen – hatten Jobs, eine eigene Wohnung, waren in Europa.«
»Ja. Mindestens ein Jahr lang wollte ich eine eigene Wohnung haben und dann sesshaft werden. Man weiß dann eher, was man will. Verstehst du?«
»Ich weiß genau, was du meinst. Ich meine, man hat das Gefühl, gelebt zu haben. Verstehst du?«
»Das Gefühl kenn ich, ich verstehe das sehr gut.«
Wir versuchten uns zu wappnen und uns das zweite Solo-Jahr in Manhattan schönzureden. Unser ursprünglicher Plan war gewesen, inzwischen zumindest verlobt zu sein. Wie wir gehört und gesehen hatten, war eine Freundin nach der anderen an den Richtigen geraten. Mit zweiundzwanzig mussten wir uns bereits vorbeten, dass noch nicht alles zu spät sei, dass es eben nicht so schnell ginge, wie wir dachten, dass aber auch wir mal an die Reihe kämen. Wir hatten noch viele Freundinnen, die solo und auf der Suche waren. Doch hatten wir nicht damit gerechnet, dass die Suche so lange dauern würde.
Zoll. Uhren, Parfum, Handschuhe, Spitze? Ich verzollte alles, weil ich Angst hatte. Linda hatte Berge zollpflichtiger Klamotten dabei. Mein Koffer wurde durchsucht, ihrer nicht.
Als ich durch den Zoll war, sah ich meine Eltern, und meine Augen suchten Norman. Er war nicht da. Und ich war enttäuscht. Norman war zumindest einer, den ich verabscheuen konnte, und einer war besser als keiner.
»Hi …«
»Hi …«
»Der Trip war großartig. Ich erzähl euch alles später. Ich hab tausend Dias und Postkarten und so weiter. Wo ist Norman?«
»Er macht auch Ferien. Er ist mit seinen Eltern nach Atlantic City gefahren. Komm, wir bringen dich nach New York.«
Linda stieß zu uns und verteilte Küsschen.
»Charles ist mit dem Auto da. Er fährt uns in die Stadt.« Ich konnte meinem Vater die Erleichterung vom Gesicht ablesen. Der Mann fuhr über hundert Kilometer jeden Tag. Und war glücklich, sie nicht auch noch am Wochenende fahren zu müssen.
»Charles, den du nicht ausstehen kannst?«
»Ich kann ihn nicht ausstehen, aber er hat ein Auto. Meine Eltern können dann über Throg’s Nick nach Hause fahren.«
»Gut.«
Wir verstauten unser Gepäck im Auto; Linda und Charles setzten sich nach vorne, ich saß an meinem angestammten Platz, allein auf dem Rücksitz. Keiner sagte etwas. Wir waren müde und dachten an die Zukunft.
Sollten wir uns eine andere Arbeit suchen? Sollten wir etwas Interessanteres machen? Sollte ich mit Norman Schluss machen, die Leuten könnten sonst denken, wir wären ein Paar? Sollte ich den Pelzmantel verkaufen und mir die Nase richten lassen?
Wir wurden an der Kreuzung rausgelassen und schleppten uns und unser Gepäck nach oben, ohne dass einer von den Leuten, denen wir zu Weihnachten viel zu viel Trinkgeld gegeben hatten, auf
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