Sherlock Holmes - Das ungelöste Rätsel
Geschmack.“ Die Fassung auf Lestrades Gesichtszügen schmolz wie der Schnee auf seinen Schuhen.
„Nehmen Sie einen Schluck Kaffee“, schlug ich dem Inspektor vor und griff nun meinerseits nach der Kanne.
„Danke, Doktor.“ Lestrade blies seufzend in seine Tasse. „Heute Nacht hat es noch zwei Morde gegeben. Ein Juwelier und ein Pfandleiher wurden ausgeraubt. – Haben Sie Zucker? – Diese Überfälle waren mindestens so seltsam wie der Mord an Campbell oder der Kobold-Artikel von diesem elenden Schmierfink.“ Lestrade verrührte den Zucker in seiner Tasse. „Ein toter Juwelier, aber keine gestohlenen Juwelen. Ein toter Pfandleiher, aber der teure Schmuck und die anderen Wertsachen sind noch im Lagerraum. Das ist völlig absurd.
Wer würde einen Mann töten und dann den Raub kurz vor der Vollendung und dem Einstecken der Beute abbrechen?“
„Vielleicht wurde der Mörder gestört“, bemerkte ich.
„Zwei Mal? Und wie passt Campbell da ins Bild? Außerdem: Es wurde ja in beiden Fällen etwas gestohlen. Nur nicht das, was man erwarten würde, wenn bei Pfandleihern oder Juwelieren eingebrochen wird.“
„Bargeld?“
„Uhren. Und nicht nur die hochwertigen, teuren Stücke. Alle Uhren. Von der alten Küchen- bis zur kaputten Kuckucksuhr hat man in beiden Fällen alles mitgenommen, was irgendwie tickt.“ Holmes’ konzentrierter Gesichtsausdruck sprach Bände. Keine Frage: Hier hatten wir ein Rätsel nach seinem Geschmack.
Lestrade brauchte nur noch das Zauberwort zu sagen. „Wir tappen völlig im Dunkeln“, begann der Inspektor da auch schon zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. „Ich dachte mir, dass Sie so ein obskurer Fall interessieren könnte, zumal Sie ohnehin schon am Tatort waren und ...“ Er tippte mit dem Löffel auf die Zeitung, hinterließ drei braune Tropfen und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, „... Sie und Ihr guter Ruf bereits involviert sind ...“
Holmes erklärte, er wolle etwas in der Innenstadt überprüfen, und verließ unsere kleine, ungeplante Gesellschaft. Der Inspektor und ich tranken in Ruhe unseren Kaffee aus und diskutierten über die literarische Qualität von „König Salomons Diamanten“ – anscheinend machte meine Tätigkeit als Chronist der Fälle meines Freundes mich in Lestrades Augen automatisch zu einem auserwählten Literaturkritiker –, ehe sich auch der Inspektor wieder in die Kälte wagte, sich diesmal allerdings eine Droschke nahm und seinen Angelegenheiten nachging. Ich besuchte derweil einen Patienten, dessen Erkältung sich in eine böse Lungenentzündung verwandelt hatte, nachdem er seit Geburt seines Sohnes von seiner Frau dazu angehalten wurde, seine Zigarren am offenen Fenster zu rauchen. Holmes hätte bestimmt wieder einen abfälligen Kommentar zum Thema Frauen und Familie übrig gehabt, weshalb ich ihm nichts von meinem Fall in dieser Woche unserer Zusammenarbeit erzählte.
Bei meiner Rückkehr am Nachmittag erreichte gerade ein Telegramm die Baker Street. Es war von Lestrade.
Mord Nr. 4. Uhrmacher. Diesmal sogar defekte Uhren gestohlen. L.
Holmes, der nur wenige Minuten nach dem Telegramm in unserer Wohnung auftauchte, wirkte nicht sonderlich überrascht, als er Lestrades Nachricht las.
„Unsere Kobolde scheinen fleißig zu sein. Und einen Tick fürs Tickende zu haben. Campbell hat am Abend seiner Ermordung einen Mantel voll mit Uhren getragen, wie ich herausgefunden habe. Diebesgut, das Campbell unter die Leute bringen wollte. Ich habe vorhin einen seiner zufriedenen Kunden getroffen. Der Mann war ziemlich unglücklich, als er von Campbells Ableben erfuhr – seine Uhr ist am nächsten Tag bereits stehen geblieben, und er wollte sie Campbell wohl mit einem netten Wort zurückgeben und höflich sein Geld zurückverlangen ...“
Campbell und die Toten, von denen wir bis hierhin wussten, blieben nicht alleine: Die brutalen Raubmorde mit den förmlich zerhackten Opfern gingen weiter. Lestrade und die Londoner Zeitungen, die sich immer mehr für das Thema erwärmten, berichteten am folgenden Tag von zwei weiteren Pfandleihern und noch einem ältlichen Uhrmacher, die entsprechend entstellt aufgefunden worden waren und der mysteriösen Mordserie zugeordnet wurden. Inzwischen hatte überdies auch ein Coroner dem Inspektor bestätigt, dass die Wunden von kleinen mittelalterlichen Handwaffen stammen mussten, wie Holmes bereits angedeutet hatte. Auch diese Information sickerte zur Presse durch, woraufhin weitere Journalisten die
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