Sherlock Holmes - Das ungelöste Rätsel
Kobold-Theorie aufgriffen und ausschmückten. Der militante Untergrund Irlands wurde immer wieder ins Spiel gebracht; dazu gesellten sich Theorien über Zwerge und Mainzelmännchen in Diensten des deutschen Kaisers und Smurf-Assassinen aus Belgien.
Mich dagegen beschäftigte vermehrt mein Patient, dessen Zustand sich über Nacht abermals drastisch verschlechtert hatte, und so dachte ich an diesem Vor- und Nachmittag nicht viel über den Fall nach.
Erst am frühen Abend, als ich müde durch den Schnee auf dem Trottoir schlurfte, wurde ich wieder mit Holmes’ aktueller Ermittlung konfrontiert, als auf den Stufen zur Eingangstür von 221 ein Mann in einem zerfetzten braunen Mantel lag. Blut sickerte aus diversen Wunden unter dem aufgerissenen Stoff und floss über den Körper und die Treppenstufen in den platt getretenen Schnee. Ich eilte an die Seite des Fremden, der blutend und halb bewusstlos auf der Treppe zu unserer Wohnung lag, schloss hektisch die Haustür auf und schleppte den Mann nach oben; eine Spur aus Schnee und Blut markierte unseren Weg durchs Treppenhaus. Zum Glück war der Kerl alles andere als ein Schwergewicht, und so bugsierte ich ihn ohne große Mühe auf das Sofa, kontrollierte Puls und Atmung und besah mir seine Wunden genauer.
Ich musste sofort an Campbell denken. Auch mein unvorhergesehener Patient war übel zugerichtet, hatte Schnitte im Gesicht und an Händen und Armen. Blut klebte im rotblonden Vollbart und überall auf seiner Kleidung.
Zwar waren die Verletzungen nicht so schlimm wie bei Campbell – dennoch war ich mir keineswegs sicher, ob der Mann es überstanden hätte, wenn er nicht zufällig auf der Treppe zur Wohnung eines Arztes zusammengebrochen wäre. Ich zog ihm den blutgetränkten Mantel und das Hemd aus und säuberte, nähte, behandelte und verband seine Wunden.
Während ich anschließend meine medizinischen Utensilien mit Alkohol reinigte und das Feuer im Kamin wieder in Gang brachte, fragte ich mich, wo Holmes blieb. Ich hoffte, dass mein Freund bald zurückkehrte, damit wir gemeinsam den Mann befragen konnten, der auf unserem Sofa lag und sich von welchen Schrecken auch immer erholte, die ihm in der Dämmerung des Winterabends widerfahren waren und ihn dermaßen übel zugerichtet haben mussten.
Draußen tobte ein kleiner Schneesturm, dessen Wüten sich hier drin wie Koboldkichern anhörte. Ich fröstelte.
„Ruhen Sie sich aus“, sagte ich dennoch mit ärztlicher Sachlichkeit zu meinem Patienten, nachdem ich mir die Hände gewaschen und ihm eine weitere Wolldecke gebracht und über die Beine gelegt hatte. „Sammeln Sie Ihre Kräfte. Ich habe da so eine Ahnung, dass mein Mitbewohner Sie befragen möchte, sobald er nach Hause kommt.“
„Danke Ihnen, Watson“, sagte der bärtige Fremde da auf einmal mit der schwachen, gleichwohl unverkennbaren Stimme von Sherlock Holmes. „Aber ich muss mich für gewöhnlich nicht selbst befragen.
Trotzdem erzähle ich Ihnen gerne, was mir in den letzten Stunden passiert ist ...“
Draußen im Schneegestöber lachten und heulten die Kobolde.
„Ich habe mich als Straßenhändler verkleidet, um die Täter hervorzulocken“, begann Holmes Minuten später mit geschlossenen Augen, nachdem ich ihm ein Glas unverdünnten Brandy zur Stärkung und Belebung gebracht und er es in einem Zug geleert hatte. „Wie Sie sehen, hat es geklappt.“
„Aber zu welchem Preis, Holmes!“
„Nichts ist so teuer und kostbar wie die Wahrheit, mein Freund“, entgegnete der Detektiv ernst.
„Nicht einmal das Leben?“, fragte ich barsch. Manchmal versetzte mich Holmes’ Risikobereitschaft gehörig in Rage – erst recht, wenn ich daran dachte, dass er sich nur mit letzter Kraft in die Baker Street geschleppt und mit etlichen Schnitt- und Stichwunden besinnungslos in der Kälte gelegen hatte. Was, wenn ich länger bei meinem Patienten gebraucht hätte? Wäre Holmes dann für eine Information, die er nicht einmal weitergeben oder anderweitig nutzen konnte, im Schnee verblutet und gestorben?
„Wollen Sie nun über den Preis des Lebens debattieren – oder wollen Sie hören, was ich herausgefunden habe?“
Ich presste in stummer Wut die Lippen zusammen.
„Gut.“ Holmes umklammerte das leere Brandyglas. „Ich habe jeden in der Gegend wissen lassen, dass ich viele heiße Uhren in meinem Mantel habe“, erzählte er. „Das hat zunächst niemanden interessiert, ich habe nichts verkauft. Mit der Dunkelheit kam dann aber der Schmerz – ein
Weitere Kostenlose Bücher