Sherlock Holmes - Das ungelöste Rätsel
ich mich um. Gütiger Himmel! Ich hatte nicht bemerkt, wie weit ich abgetrieben war. Gerade entschwand die Uferlinie aus meinem Blickfeld.
„Wo zum Teufel sind meine Ruder?“, fragte ich die Delphine. Leider wusste keiner die Antwort.
„Watson! Hallo!“
Ging das schon wieder los? Schon wieder Holmes’ Stimme in meinem Kopf? Kam das von dem Schlag der Ruderbank auf meinen Kopf? Oder von zu viel Sonne? Oder immer noch von meinem Insult?
„Watson! Hier oben.“
Beinahe wäre ich vor Schreck vom Boot gefallen! Dicht über meinem Kopf schwebte, mit dem Flor nach unten, der zerzauste alte Teppich aus Arberija. Und auf der Rückseite, mitten darauf, thronte im Schneidersitz – Sherlock Holmes höchstpersönlich!
„Gott sei Dank, Sie leben!“
Ich brach in hysterisches Gelächter aus.
„Stellen Sie sich vor, Holmes“, erwiderte ich, noch immer lachend,
„ich sehe Sie mir zu Häupten auf einem fliegenden Teppich sitzen.
Das muss ein Traum sein!“
„Beruhigen Sie sich. Es ist kein Traum. Ich bin es wirklich. Steigen Sie auf, dieses Bootswrack ist unterwegs nach Afrika.“ Ich kicherte weiter.
„Ich fasse es nicht! Mir träumt, ich steige von meinem sinkenden Boot zu Sherlock Holmes auf einen fliegenden Teppich. Wenn ich das meiner Frau erzähle – Sie wird es nicht glauben.“
„Und ich glaube, Sie fallen gleich ins Wasser, wenn Sie nicht aufpassen!“
Mit merkwürdigen Handbewegungen lenkte Holmes den Teppich zu mir herab, so dass ich ohne Mühe vom Bootsrumpf hinüber zu ihm kriechen konnte. Durch mein Gewicht sackte der Teppich gefährlich in Richtung Wasseroberfläche ab, doch Holmes ließ ihn mit weiteren merkwürdigen Handbewegungen wieder in die Höhe steigen. Etwa zehn Meter über den Wellen hörte der Steigflug auf. Der Teppich ging in einen raschen Geradeausflug über.
„Halten Sie sich gut am Rand fest!“, rief mir Holmes mit wehendem Haarschopf zu.
Ich legte mich auf den Bauch und tat, wie mir geheißen.
„Da unten. Schauen Sie!“
Der Teppich hielt so abrupt inne, dass ich beinahe über die Kante gerutscht wäre. Dann sah ich es. In einiger Entfernung unter uns dümpelte kieloben der Kadaver des Hais. In den nächsten Minuten erlebten wir mit, wie er sich verwandelte. Zurückverwandelte.
Er schrumpfte auf die Größe eines Menschen. Die Seitenflossen bildeten zwei Arme aus, der Schwanz teilte sich in zwei Beine mit Füßen, aus dem flachen Gesicht wuchs eine Nase, es formten sich zwei Ohren, ein Hals, zwei Brüste und schließlich trieb da kein toter Fisch mehr im Wasser, sondern die einäugige Frau, die mir am Ufer immer aufgelauert hatte. Das eine ihr verbliebene Auge schaute blicklos in den blauen Himmel. In der leeren Höhle des anderen schwappte Meerwasser. Ihr Mund stand ebenfalls offen und schien einen stummen Schmerzensschrei zu uns heraufzuschicken. Blut trat aus dem offenen Mund und der Nase aus. Jede Welle wusch ein wenig mehr davon in die See. Die Zähne waren seltsam spitz, wie bei dem Hai, der die Frau eben noch gewesen war. Ihr Kopf war ebenso haarlos wie der Rest des Körpers. Die Nasen der angreifenden Delphine hatten schreckliche Male und Wunden darauf hinterlassen. Eine Leichenbeschau hätte mit Sicherheit etliche Rippenbrüche und zerschmetterte Gelenke ergeben, abgesehen von den vielen Bissspuren und Rissen in der Haut. Nein, dieser Tod war ebenso wenig leicht und friedlich gewesen wie der Tod, den Delphile gestorben war und den dieser Wandling mir zugedacht hatte.
Nach der Landung vor unserem Haus deponierte Holmes den zusammengerollten Teppich wieder in seinem Schlafzimmer. Dann setzte er in einer umständlichen Prozedur die Wasserpfeife in Gang und trug sie zu der Holzbank vor dem Haus. Während er den kühlen Rauch genoss, erstattete er mir, die Beine behaglich ausgestreckt, ausführlich Bericht. Nur selten unterbrach ich ihn mit einer kurzen Zwischenfrage.
„In Corfu-City nahm ich sofort meine Untersuchungen auf. Um es kurz und ohne Rücksicht auf die Chronologie zu machen: Ich unterhielt mich unter anderem mit dem Vorstand der Lesegesellschaft in der Capodistriou-Straße, der mir die wunderbare Bibliothek zur Verfügung stellte und mich an seinem reichen Wissen teilhaben ließ.
Die Verständigung bereitete keinerlei Probleme, denn er spricht fließend sieben Sprachen und, mit einem Wörterbuch, ein halbes Dutzend weitere. Einem niederländischen Wissenschaftler, mit dem er so freundlich war mich bekannt zu machen, verdanke ich weitere wichtige
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