Sherlock Holmes - Der Vampir von Sussex
aussortiert und vernichtet. Es bleibt dann allerdings noch ein großer Rest von interessanten und weniger interessanten Fällen übrig, die ich längst publiziert hätte, wenn ich nicht ge-fürchtet hätte, meinem Publikum zuviel von dem Mann zuzumuten, den ich über alles ve rehre und achte. Ich wollte auch nichts veröffentlichen, was seinen Ruf hätte mindern können. In manchen Fällen war ich selber mitten drin und kann als Augenzeuge berichten, während ich bei anderen Fällen entweder nicht dabei war, oder aber eine so kleine Rolle spielte, daß die Geschichte besser von jemand anders erzählt werden sollte. Die folgende Geschichte kann ich aus eigener Erfahrung berichten.
Es war ein stürmischer Oktobermorgen. Beim Ankleiden schaute ich den letzten Blättern einer einsamen Platane, die unseren Garten schmückt, zu, wie sie herunter in den Garten sege lten. In der Hoffnung, Gesellschaft in meiner deprimierten Gemütsverfassung zu finden, begab ich mich zum Frühstück. Auch er war ja, wie alle großen Künstler, abhängig von der Stimmung seiner Umgebung. Aber ich fand ihn im Gegenteil besonders vergnügt und zu Späßen aufgelegt vor. Es war jene etwas makabre Vergnügtheit, der er sich in seinen helleren Zeiten hingeben konnte. Er hatte sein Frühstück nahezu beendet. »Haben Sie einen Fall, Holmes?«
fragte ich ihn.
»Ihre Fähigkeit der Schlußfolgerung nimmt gewaltig zu, Watson«, antwortete er. »Plötzlich sind Sie in der Lage, mein Geheimnis zu erraten. Ja, ich habe einen Fall. Nach einem Monat Stagnation und Kleinkrams rollen die Räder wieder.«
»Lassen Sie mich daran teilhaben?«
»Es gibt so wenig zu teilen. Aber wir können es zusammen besprechen, wenn Sie die beiden hartgekochten Eier verzehrt haben, mit der die neue Köchin uns heute beehrt hat. Daß sie so hart geraten sind, mag im Zusammenhang mit einem Exemplar des >Family Herald< stehen, das ich gestern auf dem Tisch in der Halle liegen gesehen habe. Selbst eine so triviale Angelegenheit: wie das Kochen eines Eies bedarf der Aufmerksamkeit und des Zeitbewußtseins und ist unvereinbar mit der Liebe zu den Romancen in diesem guten Blatt.«
Eine Viertelstunde später war der Tisch abgeräumt und wir saßen einander gegenüber. Er ha t-te einen Brief aus der Tasche gezogen.
»Haben Sie je von dem Goldkönig Neil Gibson gehört?« fragte er.
»Meinen Sie den amerikanischen Senator?«
»Na, er war einmal Senator in einem Staat im Westen. Aber besser bekannt ist er als einer der größten Goldminenmagnate der Welt. «
»Ja, ich kenne ihn. Er lebt seit einiger Zeit in England. Sein Name ist sehr bekannt.«
»Ja, er hat vor etwa fünf Jahren ein sehr ansehnliches Gut in Hampshire gekauft. Haben Sie auch von dem tragischen Ende seiner Frau gehört?«
»Natürlich. Ich erinnere mich wieder daran. Darum ist mir auch der Name so bekannt. Aber ich kenne keine Einzelheiten.« Holmes wies mit der Hand auf einige Papiere, die auf einem Stuhl lagen. »Ich hatte keine Ahnung, daß mir der Fall übertragen werden würde, sonst hätte ich meine Auszüge längst fertig ge habt«, sagte er. »Das Problem an sich, wenn es auch sehr sensationell ist, bietet keine besonderen Schwierigkeiten. Die Persönlichkeit des Angeklagten verdunkelt nicht die Klarheit der Beweisführung. Das war die Ansicht des Schöffengerichtes.
Die Sache ist nun dem Spezialausschuß in Winchester übergeben. Ich fürchte, es handelt sich um ein undankbares Geschäft. Watson, ich kann Tatsachen aufdecken, aber ich kann sie nicht ändern. Es sei denn, es käme etwas völlig Neues und Unerwartetes ans Licht, sonst weiß ich nicht, worauf mein Klient hoffen könnte.«
»Ihr Klient?«
»Ach, das habe ich Ihnen ja noch gar nicht erzählt. Das hatte ich ganz vergessen. Ich habe zuviel von Ihrer Art angenommen, Watson. Sie erzählen auch immer Geschichten von hinten nach vorne. Lesen Sie dieses lieber erst.«
Der Brief, den er mir reichte, war in kräftiger, sicherer Handschrift geschrieben und lautete folgendermaßen:
Claridge's Hotel, 3. Okt.
Lieber Mr. Sherlock Holmes!
Ich kann es nicht mit ansehen, daß die beste Frau, die je existiert hat, verurteilt wird. Ich werde alles tun, um sie zu retten. Ich kann die Dinge nicht erklären- ich kann nicht einmal versuchen, sie zu erklären, aber ich weiß gegen allen Zweifel, daß Miß Dunbar unschuldig ist. Ich nehme an, daß Sie die Fakten kennen. Wer kennt sie nicht? Schließlich hat es Stoff für den Klatsch des Jahres gegeben. Und
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