Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
sie beides.
Ich bot ihm einen Platz bei der Feuerstelle an, wo noch etwas bouil-lon vom Samstag köchelte und ein patziges Blubbern produzierte. Er litt unter der Hitze und versuchte vergeblich, sich eines lästigen Mos-kitos zu erwehren. Wir unterhielten uns auf Englisch, auch wenn mein Akzent den Eindruck der unflätigen Hexe, als die er mich wohl sah, noch verstärken musste. Aber ich weigerte mich, sein Französisch hinzunehmen. Meine tote Mutter würde mich sonst heimsu-chen, eine Nacht für jeden ungestraften Satz.
„Wo ist Ihr Freund?“, fragte ich, und beinahe lächelte er, als kön-ne er seine Gedanken endlich auf etwas Angenehmes richten.
„Er erwartet mich am Hafen. Unser Schiff läuft am späten Nachmittag aus.“
„Gut für Sie“, sagte ich. „Sie können in Ihre Heimat zurück zu Ihren Freunden. Noch vor dem Anbruch des neuen Jahrhunderts werden sie bei Brandy in einem Club sitzen und sich damit brüsten, wie Sie dem Teufel eins auswischten.“
„Machen Sie sich ruhig lustig“, sagte er und tupfte sich die Stirn.
Einen Moment schien er mit sich zu ringen, ob dies der passende Augenblick für einen Vortrag über die Vorzüge der britischen Kultur wäre, dann besann er sich seines Anliegens. „Ich brauche Ihre Hilfe. Wie ich das Blatt auch drehe und wende – ich kann mir keinen Reim auf die Geschehnisse der letzten Tage machen.“
„Müssen Sie das denn?“
„Sie verstehen nicht. Ich erinnere mich an so gut wie nichts! Dabei wird Ihnen jeder Mediziner bestätigen, dass eine Amnesie solchen Ausmaßes ...“
Ich hob eine Braue, und er ließ entmutigt die Schultern sinken. „Ich weiß nur noch Bruchstücke. Zum Beispiel, wie wir spät am Abend im Hafen anlegten, und ich uns eine Unterkunft besorgte. Überall roch es nach Fisch und Unrat, und mir war nicht wohl. Am nächsten Tag wollten wir uns auf die Fährte Dr. Lafayettes setzen ...“
„Ich möchte diesen Namen in meinem Haus nicht mehr hören!“ Ich bekreuzigte mich und legte etwas Weihrauch nach. Mein Gast wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, protestierte aber nicht.
Ich reichte ihm eine Tasse mit Ziegenmilch, und er trank.
„Holmes ging sich umsehen – sich akklimatisieren, wie er es nennt – und ich machte mich auf, die Passagierlisten der letzten Tage einzusehen. Ich ahnte schon, dass er mich nicht bei sich haben wollte, wenn er mit den Menschen sprach ... den einfachen Leuten, wissen Sie, in den Armenvierteln.“
„Ich verstehe sehr gut“, sagte ich.
„Ich mag es einfach nicht, wenn er sich auf eigene Faust in Gefahr begibt, aber was soll ich tun?“ Er drehte die Tasse in seinen Händen.
„Fahren Sie fort. Woran können Sie sich sonst noch erinnern?“
„Mit Hilfe der Papiere, die Holmes’ Bruder uns ausgestellt hatte, konnte ich die Fährte ...“ – er besann sich eines Besseren, als er meinen drohenden Blick bemerkte – „... des Mannes, den wir suchten, verfolgen. Er war mit einem Schiff aus Santo Domingo gekommen.
Noch im Hafen hat er eine Kutsche bestiegen, die von einer unbekannten Frau gelenkt wurde.“
Es fröstelte mich. Ich wusste genau, wen er meinte.
„Zur Mittagszeit trafen wir uns wieder. Holmes hatte sich neue Kleidung besorgt, und gab sich als Urlauber aus. Seine Schuhe waren schmutzig, er roch nach Küche und Hinterhöfen. Ich machte eine Bemerkung darüber, und er lobte, wie sehr sich meine Sinne geschärft hätten. Als ich ihm berichtete, was ich in Erfahrung gebracht hatte, schien er wenig überrascht, und setzte mich davon in Kenntnis, dass er die Spur des Flüchtigen bereits bis zu dessen Bleibe in Pé-
tionville verfolgt habe.“ Er seufzte. „Danach verschwimmt alles zu Schatten in nächtlichen Gassen, Hundegebell und dem Quieken von Ratten ...“
„Sie scheinen Port-au-Prince von seiner besten Seite kennen gelernt zu haben.“
„Wenn man Verbrecher jagt, ist man leider gezwungen, sich in deren Welt zu begeben“, dozierte er und streckte sich. Dabei stieß er an die Knoblauchstange hinter ihm und zuckte zusammen.
„Dann war da dieser kranke Junge, dem ich Medizin gab ... Das Letzte, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass wir zu Ihnen gingen – aber weder weshalb, noch was hier geschah. Geschweige denn, was aus dem vermaledeiten Schädel wurde. Sie wissen doch, wovon ich spreche, nicht wahr?“
Ich nickte, tat ihm aber nicht den Gefallen, die unausgesprochene Frage zu beantworten.
„Ach, es ist mir so peinlich! Sicher hält man mich für verrückt. Als
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