Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
wäre ich ein junger Bursche, der sich die Nächte um die Ohren schlägt! Auch Holmes wirkt verändert – aber bei ihm ist es anders.
Fast ist es, als habe man eine Last von ihm genommen. Ich kann das spüren, aber er will nicht darüber reden.“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „Dabei muss doch jemand die Geschichte erzählen. Jemand muss berichten, was geschah! Dass der Fall gelöst ist!“
„Muss das jemand?“, fragte ich sibyllenhaft.
„Jetzt fangen Sie schon an wie er. Bald werden Sie mich über die Tugend der Diskretion belehren, oder die ungesunde Neigung, die Sensationsgier der Leserschaft zu befriedigen ...“ Ich neigte erwartungsvoll den Kopf, denn ich ahnte, dass er sich eine Menge Paraden auf diesen Vorwurf zurechtgelegt hatte und darauf brannte, sie anzubringen. „Ich habe über jeden seiner Fälle berichtet, und bis jetzt habe ich es immer verstanden, zwischen meinen Pflichten als Chronist und den Erfordernissen des Anstands eine ge-wissenhafte Abwägung zu treffen. Ich habe nicht vor, bei diesem Fall, so außergewöhnlich er sein mag, eine Ausnahme zu machen.“
„Sie brauchen mich, um Ihre Geschichte zu erzählen“, stellte ich fest.
Er zupfte sich nervös den Bart. „Bitte helfen Sie mir, Miss Aretakis.“
Ich seufzte. „Valérie. Hier im Viertel, John, bin ich bloß Valérie.“
„Woher kennen Sie meinen Vornamen?“
„Sie sollten Ihre einzige Quelle nicht hinterfragen.“
„Also werden Sie es tun?“ Er griff in seinen verschwitzten Anzug und zog allen Ernstes Papier und einen Füllfederhalter heraus. Ich hob abwehrend die Hände, doch er gab nicht auf. „Es geht mir nur um die Fakten. Schreiben Sie bloß, was geschehen ist, und überlas-sen Sie die Suche nach den richtigen Worten ruhig mir – ich habe Erfahrung darin. Ich werde auf dem Schiff genug Zeit haben, so dass die Londoner Öffentlichkeit gleich nach unserer Rückkehr von dem neuen Abenteuer des großen Sherlock Holmes erfahren kann – dem mysteriösen Fall des verwunschenen Schädels.“ Kopfschüttelnd griff ich nach Stift und Papier. Es war teures Büt-tenpapier, wahrscheinlich aus Europa. Dieser Engländer war durch und durch unmöglich. „Ich habe wohl keine Wahl. Doch damit wir uns recht verstehen, ich tue das nur aus Dankbarkeit dafür, dass Sie Joël geholfen haben. Und unter der Bedingung, dass diese Räuberpistole nie ihren Weg nach Haiti findet. Sie verstehen unsere Art zu leben nicht. Sie und Ihr Freund ... Erführe man, was ich für Sie getan habe, würde man mich für den Rest meines Lebens verspotten.
Möchten Sie das?“
Er schüttelte empört den Kopf.
„Gut. Dann kommen Sie in drei Stunden wieder, und Sie können Ihre Fakten haben.“
Erleichtert rappelte er sich auf. „Auf Wiedersehen, Miss Aretakis.“
„Valérie, John.“
Grummelnd schob er den Perlenvorhang beiseite und ging nach draußen, wo Carrefour unter der Mittagshitze stöhnte.
Ich aber nahm die alte Krücke aus dem Schrank und hängte sie hoch an die Wand. Dann setzte ich mich auf meinen Küchenboden und begann, mit Mehl und Kreide Zeichen auf die Dielen zu schreiben. Alte Zeichen, die meine Mutter mich gelehrt hatte.
„ Papa Legba “, flüsterte ich. „Du musst mir helfen. Hörst du? Herr der Wegkreuzungen, Hüter der Pforten. Hilf mir, Lügen für den Engländer zu erfinden ... Öffne mir die Schranke – L’uvri bayè pu mwê. “ Von fern hörte ich Legbas greises Lachen und fühlte Zuversicht, als er in mich fuhr. Mit wohligem Schaudern beobachtete ich, wie er meine Hand führte und das Blatt zu füllen begann. Alles würde gut werden, sobald der schnauzbärtige Mann uns verlassen hatte. Er, sein Freund, und dessen Dämonen.
Mein voller Name ist Yvette Valérie Aretakis. Meine Mutter stammte aus Marseille. Sie war eine Kunstsammlerin und eine belesene Frau, die es in Europa mit seinen Zwängen und Vorurteilen nicht länger hielt, und so brach sie auf und bereiste die Welt. Das Ziel ihrer Reise, auch wenn sie es anfangs nicht wusste, war Haiti. Dort verliebte sie sich in einen hungan und begann ein neues Leben als Priesterin.
Viele der Alten in Carrefour sprechen noch heute von ihr und ihren heilenden Händen. Und manche bezeugen, sie hätten sie übers Wasser gehen sehen. Aristide sagt, sie sei eine stolze Frau gewesen, und misst mich an ihr. Ich glaube, er würde mir gerne ebenso trauen wie ihr.
Leider hatte sie sich nicht nur Freunde gemacht. Ihr Mann starb durch die Hand eines boko , der niemals
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