Sherlock Holmes - gesammelte Werke
bewusstlosen Mann aus der Gefahr zu bringen.
»Ja«, sagte unser Ingenieur kläglich, als wir wieder im Zug saßen, »das war wirklich ein einträgliches Geschäft. Meinen Daumen hab ich verloren, die Aussicht auf meine Fünfzigpfundnote ist ebenfalls fort, und was hab ich dafür eingetauscht?«
»Erfahrung«, sprach Holmes lachend, »und die kann Ihnen indirekt wieder von Nutzen sein. Sie brauchen die Geschichte nur mit fließenden Worten vorzutragen, um bis zum Ende Ihrer Tage den Ruf eines großartigen Gesellschafters zu genießen.«
* 1 engl. Meile = 1,6 km
D IE VERSCHWUNDENE B RAUT
Lord St. Simons Hochzeit mit ihrem merkwürdigen Ausgang fesselt schon längst nicht mehr das Interesse der hohen Kreise, in denen sich der unglückliche Bräutigam bewegt. Andere Aufsehen erregende Ereignisse haben dieses Thema verdrängt und bilden mit ihren pikanteren Einzelheiten nunmehr den Gesprächsstoff an Stelle jenes Dramas, das sich bereits vor vier Jahren abgespielt hat. Ich darf wohl als ausgemacht annehmen, dass die bezüglichen Tatsachen dem großen Publikum niemals im Zusammenhang mitgeteilt worden sind. Da nun aber mein Freund Sherlock Holmes an der Aufklärung des Falles bedeutenden Anteil hat, sollte nach meiner Überzeugung in einer Darstellung seines Wirkens, die nur irgendwie auf Vollständigkeit Anspruch machen will, eine kurze Skizze dieses merkwürdigen Vorfalls nicht fehlen.
Es war wenige Wochen vor meiner eigenen Hochzeit, während ich noch mit Holmes in der Baker Street zusammenwohnte, als dieser eines Nachmittags beim Nachhausekommen einen Brief an seine Adresse auf dem Tisch vorfand. Ich hatte den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, denn das Wetter war plötzlich regnerisch geworden; dabei wehte ein scharfer Herbstwind, und die Flintenkugel in meinem Bein, die ich als Andenken aus dem afghanischen Feldzug heimgebracht habe, quälte mich mit empörender Hartnäckigkeit. In einem bequemen Stuhl sitzend hatte ich die Beine auf einem zweiten Stuhl ausgestreckt und mich in einen ganzen Berg von Zeitungen vergraben, bis ich zuletzt die Tagesneuigkeiten satt bekam und die Blätter sämtlich beiseiteschob. Während ich nun so in verdrossener Stimmung dalag, betrachtete ich mit träger Neugier das mächtige Wappen und Monogramm, das auf dem Umschlag des vor mir liegenden Briefes prangte und fragte mich, wer wohl der adlige Briefschreiber sein möchte.
»Da liegt ein höchst vornehmer Brief für Sie«, rief ich meinem Freund bei seinem Eintritt entgegen. »Ihre Briefe heute früh waren von einem Fischhändler und einem Zolleinnehmer, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja, mein Briefwechsel besitzt entschieden den Reiz der Abwechslung«, erwiderte er lächelnd, »und je weniger vornehm, desto interessanter sind sie in der Regel. Das da sieht gerade aus wie eine jener unwillkommenen gesellschaftlichen Einladungen, die einen entweder zu einer Marter oder zu einer Lüge verdammen.« Er erbrach das Siegel und überflog den Inhalt. »Warten Sie, das kann am Ende etwas ganz Interessantes geben«, rief er nun plötzlich.
»Also nichts Gesellschaftliches?«
»Nein, durchaus geschäftlich.«
»Und von vornehmer Seite?«
»Von einer der vornehmsten Personen in ganz England.«
»Nun, ich gratuliere Ihnen, mein lieber Freund.«
»Ich versichere Ihnen, Watson, es ist keine Ziererei, wenn ich sage, dass ich auf den gesellschaftlichen Rang meiner Kunden nicht so viel Wert lege wie auf das Interesse, das die Fälle bieten. Übrigens ist es wohl möglich, dass es bei dieser neuen Aufgabe auch an dem Letzteren nicht fehlt. Sie haben doch in diesen Tagen die Zeitungen genau durchgelesen, nicht wahr?«
»Na, und ob!«, erwiderte ich in kläglichem Ton und deutete dabei auf einen mächtigen Stoß, der in einer Ecke aufgehäuft lag; »ich habe ja sonst nichts zu tun gehabt.«
»Nun, das ist ein Glück, dann können Sie mir vielleicht Auskunft geben. Ich lese nichts als die Kriminalberichte und den Briefkasten. Aus Letzterem erfährt man doch wenigstens immer etwas. Aber wenn Sie die neuesten Ereignisse so genau verfolgt haben, müssen Sie wohl auch etwas über Lord St. Simon und seine Hochzeit gelesen haben?«
»Oh ja, und zwar mit dem lebhaftesten Interesse.«
»Das ist schön. Der Brief hier ist von Lord St. Simon. Ich will ihn Ihnen vorlesen, und dafür müssen Sie die Zeitungen noch einmal durchgehen und mir alles zusammensuchen, was sich auf die Angelegenheit bezieht. Er schreibt:
›Mein lieber Mr Sherlock Holmes
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