Sherlock Holmes - gesammelte Werke
abzubitten, das ich ihm angetan habe. Was die arme Mary betrifft, so bin ich durch Ihre Auskunft über sie im Innersten erschüttert. Mir zu sagen, wo sie jetzt sein mag, dazu reicht aber freilich selbst Ihr Scharfsinn nicht hin.«
»Ich glaube, wir dürfen kecklich behaupten«, erwiderte Holmes, »sie befindet sich da, wo Sir George Burnwell ist. Wie groß aber auch ihr Unrecht sein mag, so wird sie sicherlich gar bald die Strafe für alle ihre Sünden in mehr als genügendem Maß erhalten.«
D AS L ANDHAUS IN H AMPSHIRE
»Wer die Kunst um ihrer selbst willen liebt«, begann eines Tages Sherlock Holmes, indem er das Anzeigenblatt des ›Telegraph‹ aus der Hand legte, »der findet häufig in den unwichtigsten und geringfügigsten Erscheinungen den höchsten Genuss. Wie ich mit Vergnügen sehe, haben Sie sich, mein lieber Watson, diese Wahrheit bis zu einem gewissen Grad zu eigen gemacht. Haben Sie doch in den kurzen Berichten über unsere Fälle, die Sie aufzuzeichnen und – ich muss es sagen – gelegentlich auch auszuschmücken so freundlich waren, nicht sowohl die vielen ›causes célèbres‹ und sensationellen Prozesse, in denen ich eine Rolle gespielt habe, in den Vordergrund gestellt, als vielmehr jene kleinen Fälle, die – obwohl an sich vielleicht alltäglicher Art – mir doch oft gerade Gelegenheit zu den streng folgerichtigen Beweisführungen und Schlüssen gaben, die meine eigenste Spezialität bilden.«
»Und doch«, versetzte ich, »kann ich mich selbst nicht ganz von dem Vorwurf der Sensationssucht freisprechen, der gegen meine Berichte schon erhoben worden ist.«
»Sie haben vielleicht den Fehler gemacht«, fuhr er fort, während er mit einem Stückchen glühender Kohle aus dem Kamin seine lange Weichselrohrpfeife anbrannte, die er an Stelle der Tonpfeife zu nehmen pflegte, wenn er sich eher in streitbarer als in beschaulicher Stimmung befand – »Sie haben vielleicht den Fehler gemacht, dass Sie sich bemüht haben, allen unseren Leistungen Farbe und Leben zu verleihen, statt sich auf die Darstellung meiner streng logischen Schlussfolgerungen von der Ursache auf die Wirkung zu beschränken, die in Wirklichkeit das einzig Bemerkenswerte an der ganzen Sache bilden.«
»Ich denke doch, ich habe Ihnen dabei volle Gerechtigkeit angedeihen lassen«, entgegnete ich etwas kühl, denn mir war das starke Selbstgefühl zuwider, welches, wie ich mich schon mehr als einmal überzeugt hatte, einen ziemlich ausgesprochenen Zug in meines Freundes merkwürdigem Charakter bildete.
»Nein, es ist nicht Eigenliebe oder Einbildung von mir«, bemerkte er darauf, indem er nach seiner Gewohnheit nicht meine Äußerung beantwortete als vielmehr das, was ich dabei gedacht hatte. »Wenn ich volle Gerechtigkeit für meine Kunst verlange, so tue ich das, weil ich dieselbe als etwas Unpersönliches – als etwas über mir Stehendes betrachte. Verbrechen kommen alle Tage vor, streng folgerichtiges Denken findet sich selten. Deshalb hätten Sie sich mehr bei dem Letzteren als bei Ersterem aufhalten sollen. Statt einer Reihe belehrender Vorträge ist unter Ihrer Hand ein ganz gewöhnliches Geschichtenbuch entstanden.«
Es war ein kalter Morgen am Beginn des Frühjahrs, als wir nach dem Frühstück unter solchen Reden bei einem munter flackernden Feuer in dem alten Zimmer in der Baker Street beisammensaßen. Dicker Nebel wallte zwischen den schwärzlichen Häuserreihen, und die Fenster gegenüber nahmen sich hinter den schweren gelben Dunststreifen aus wie dunkle, formlose Flecken. Unsere Gaslampe brannte und warf ihren blendenden Schein auf das weiße Tischzeug, das blinkende Porzellan und Silberzeug unseres noch nicht abgedeckten Frühstückstisches. Holmes war den ganzen Morgen über sehr schweigsam gewesen und hatte sich ununterbrochen in den Anzeigenteil einer ganzen Reihe von Zeitungen vertieft, bis er schließlich seine Nachforschungen aufgab und in nicht besonders rosiger Laune aus seiner Versunkenheit erwachte, um mir über meine schriftstellerischen Missgriffe eine Vorlesung zu halten.
»Sensationssucht«, fuhr er nach einer langen Pause fort, während deren er immerzu Wolken aus seiner Pfeife geblasen und in das Kaminfeuer geblickt hatte, »wird man Ihnen übrigens kaum zur Last legen können; handelt es sich doch bei einem guten Teil der Fälle, die Sie Ihres Interesses gewürdigt haben, gar nicht um Verbrechen im strengen Sinn des Wortes. Eher sind Sie vielleicht über dem Bestreben, dem Sensationellen
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