Sherlock Holmes - gesammelte Werke
aus dem Weg zu gehen, ins Alltägliche verfallen.«
»Dies lässt sich wohl manchmal von dem Ausgang sagen, die Methode aber, nach der die Behandlung der Fälle erfolgte, war stets eigenartig und interessant, dabei bleibe ich.«
»Ach was, mein lieber Freund, was kümmert sich das Publikum, das große, oberflächliche Publikum, um die feineren Schattierungen streng logischer Ableitung und Schlussfolgerung! Aber wahrhaftig, wenn Ihre Erzählungen trivial ausfallen, so kann man Ihnen keinen Vorwurf daraus machen, denn die Tage der großen Fälle sind vorüber. Die Menschheit, oder zum wenigsten die Verbrecherwelt, hat alle Kühnheit und Originalität verloren. Meine eigene bescheidene Praxis befindet sich allem Anschein nach auf dem besten Weg, zu einem Fundbüro für verlorene Gegenstände und zu einer Auskunftsstelle für Schullehrerinnen herabzusinken. Schlimmer kann es übrigens jetzt wohl kaum mehr werden. Mit dieser Zuschrift, die ich heute früh erhielt, dürfte ich vermutlich beim Nullpunkt angelangt sein. Da, lesen Sie!« Damit warf er mir einen ganz zerknitterten Brief hin. Er war den Abend vorher am Montague Square geschrieben und lautete:
Werter Mr Holmes!
Ich bin im Zweifel, ob ich eine mir angebotene Gouvernantenstelle annehmen soll oder nicht und möchte sehr gerne Ihren Rat in der Sache in Anspruch nehmen. Wenn ich Sie nicht störe, werde ich morgen Vormittag um halb elf Uhr bei Ihnen vorsprechen. Ihre ergebene
Violet Hunter
»Kennen Sie die Schreiberin?«, fragte ich.
»Nein.«
»Es ist gerade halb elf.«
»Jawohl, und ich glaube, ich höre sie eben klingeln.«
»Die Sache kann interessanter ausfallen, als Sie denken; Sie erinnern sich doch der Geschichte mit dem blauen Karfunkel, die sich zuerst ganz wie eine Posse ausnahm und sich dann zu einem wichtigen Kriminalfall entwickelte. So kann es diesmal auch gehen.«
»Nun, wir wollen hoffen! Wir werden ja nicht lange im Zweifel darüber sein. Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist die Schreiberin des Briefchens bereits zur Stelle.«
Er hatte noch nicht ausgeredet, als die Tür aufging und eine junge Dame eintrat. Sie war einfach, aber hübsch gekleidet, hatte ein frisches aufgewecktes Gesicht voll Sommersprossen und verriet durch ihr entschiedenes Auftreten, dass sie sich bis dahin allein hatte durch die Welt schlagen müssen.
»Sie nehmen mir doch nicht übel, dass ich Sie belästige?«, begann sie, als mein Freund sich erhob, um sie zu begrüßen; »aber es ist mir etwas höchst Sonderbares begegnet, und da ich keine Eltern oder sonstige Angehörige habe, die ich um Rat fragen könnte, dachte ich, Sie wären vielleicht so freundlich, mir zu sagen, was ich tun soll.«
»Bitte, nehmen Sie Platz, Miss Hunter. Mit Vergnügen stehe ich Ihnen in jeder Weise zu Diensten.«
Ich sah wohl, dass Holmes sich von dem Wesen und der Ausdrucksweise seiner neuen Klientin angenehm berührt fühlte. Er ließ den Blick prüfend über sie hingleiten und setzte sich dann mit gesenkten Lidern und aneinandergelegten Fingerspitzen zurecht, um ihrer Geschichte zuzuhören.
»Ich war fünf Jahre lang Erzieherin in der Familie des Obersten Spence Munro«, begann sie. »Allein vor etwa zwei Monaten erhielt derselbe einen Posten in Halifax in Neu-Schottland und nahm seine Kinder mit, sodass ich meine Stelle verlor. Längere Zeit suchte ich durch die Zeitungen nach einem passenden Platz, jedoch ohne Erfolg. Zuletzt begann die kleine Summe, die ich mir erübrigt hatte, zur Neige zu gehen, und ich wusste mir nun nicht mehr zu helfen.
In dem bekannten Westaway’schen Stellenvermittlungsbüro im Westend pflegte ich so ziemlich jede Woche einmal nachzufragen, ob sich nicht etwas für mich gezeigt habe. Als ich nun vorige Woche von der Inhaberin des Büros, Miss Stoper, in ihr Privatkabinett gerufen wurde, fand ich einen Herrn an ihrer Seite sitzen. Er war von ungeheurer Körperfülle, und sein mächtiges Kinn fiel ihm in mehrfachen Falten auf die Brust herab; dabei hatte er äußerst freundliche Züge und trug einen Zwicker auf der Nase, durch den er die eintretenden jungen Damen angelegentlichst musterte.
Bei meinem Eintritt schnellte er förmlich von seinem Stuhl empor und wandte sich hastig zu Miss Stoper. ›Das ist die Rechte‹, sagte er, ›ich könnte gar nichts Besseres finden. Herrlich, herrlich!‹ Er schien ganz entzückt, rieb sich die Hände vor Vergnügen und machte einen solchen Eindruck von Wohlbehagen, dass es eine wahre Freude war, ihn
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