Sherlock Holmes - gesammelte Werke
aus.‹
Solch ein Ernst, solch eine Verzweiflung lag in ihrer Art, dass ich mich von ihren Worten an die Stelle bannen ließ und unentschlossen vor der Tür stand.
›Ich will dir vertrauen, unter einer Bedingung und nur unter dieser Bedingung‹, sagte ich schließlich. ›Diese Geheimnistuerei muss von nun an ein Ende haben. Du magst meinetwegen deine Heimlichkeit für dich behalten, aber du musst mir versprechen, dass von nun an die nächtlichen Besuche aufhören und überhaupt alles Getue hinter meinem Rücken. Ich will das Geschehene vergessen, wenn du mir versprichst, dass nichts dergleichen in Zukunft mehr vorkommen soll.‹
›Ich war überzeugt, du würdest mir vertrauen!‹, rief sie mit einem großen Seufzer der Erleichterung. ›Ich werde es lassen, ganz wie du willst. Komm fort, oh, komm fort nach Hause!‹
Noch immer an meinem Ärmel zupfend, führte sie mich von dem Häuschen weg. Als wir uns entfernten, warf ich noch einen Blick zurück, und wirklich, da war wieder an einem der oberen Fenster das gelbe, fahle Gesicht und beobachtete uns. Was für ein Zusammenhang konnte zwischen diesem Wesen und meiner Frau bestehen? Oder was verband sie mit dem rohen Weib, das ich am Tag vorher gesehen hatte? Es war ein sonderbares Rätsel, und doch fühlte ich, für mich gab es keinen Frieden mehr, bis seine Lösung gefunden war.
Die beiden folgenden Tage blieb ich daheim, und meine Frau hielt ihr Versprechen gewissenhaft, denn meines Wissens ging sie nicht aus dem Haus. Am dritten Tag aber konnte ich nicht zweifeln, dass ihr feierliches Gelöbnis sie dem geheimen Einfluss nicht zu entziehen vermochte, der sie von ihrem Gatten und ihrer Pflicht ablenkte.
Ich war an dem Tag in die Stadt gefahren, kehrte aber mit dem Zug um 2.40 Uhr statt mit meinem gewöhnlichen um 3.36 Uhr zurück. Als ich ins Haus trat, kam das Mädchen mit bestürztem Gesicht in den Hausflur gelaufen.
Wo ist meine Frau?‹, fragte ich.
›Ich glaube, sie ist ausgegangen‹, antwortete sie.
Sofort regte sich mein Verdacht. Ich sprang die Treppe hinauf, um mich zu überzeugen, ob sie im Haus sei. Dabei fiel mein Blick zufällig durch eines der oberen Fenster, und ich sah das Mädchen, mit dem ich eben gesprochen hatte, quer über das Feld auf das Unglückshaus zulaufen. Da wurde mir natürlich sofort alles klar. Meine Frau war hinübergegangen und hatte dem Mädchen gesagt, es solle sie rufen, wenn ich zurückkäme.
Außer mir vor Zorn, stürzte ich hinunter und querfeldein, entschlossen, die Sache ein für alle Mal zu Ende zu bringen. Ich sah meine Frau und das Mädchen zusammen auf dem engen Heckenweg zurücklaufen, ließ mich aber dadurch nicht aufhalten. In dem Häuschen barg sich das Geheimnis, das einen Schatten auf mein Lebensglück warf. Ich schwor mir zu, mochte kommen, was da wollte, es sollte länger kein Geheimnis sein. Ich setzte nicht einmal den Klopfer in Bewegung, sondern drückte die Klinke nieder und stürzte in den Hausflur.
Im unteren Stock war alles still und ruhig. In der Küche brodelte ein Kessel über dem Feuer, und eine große schwarze Katze lag zusammengerollt in einem Korb; aber von der Frau, die ich gesehen hatte, keine Spur. Ich lief in das zweite Gelass, doch das war ebenso menschenleer. Dann eilte ich die Treppe hinauf, fand aber auch hier nur zwei gänzlich verlassene Zimmer. Im ganzen Haus keine Menschenseele. Möbel und Wandschmuck waren von der denkbar einfachsten, billigsten Sorte, außer in der einen Stube, an deren Fenster ich das sonderbare Gesicht gesehen hatte. Die war gut und mit Geschmack ausgestattet, und aller heiße Argwohn, der mich erfüllte, kochte schäumend auf, als ich auf dem Kaminsims eine Vollfotografie meiner Frau bemerkte, die erst vor einem Vierteljahr auf meinen Wunsch aufgenommen worden war.
Als ich mich zweifellos überzeugt hatte, dass das Haus leer war, verließ ich es mit einem Zentnergewicht auf dem Herzen, wie ich es nie in meinem Leben gefühlt hatte. Meine Frau kam mir in der Vorhalle entgegen, als ich wieder in mein Haus zurückkam, aber ich war zu sehr verletzt und zu zornig, um ein Wort an sie zu richten. Ich ging an ihr vorbei und begab mich in meine Arbeitsstube. Sie kam mir jedoch nach, ehe ich die Tür hatte zumachen können.
›Es tut mir leid, dass ich mein Versprechen gebrochen habe, Jack‹, sagte sie. ›Aber wenn du alle Umstände wüsstest, würdest du mir, das glaube ich ganz gewiss, verzeihen.‹
›Dann sag mir alles!‹
›Ich kann nicht, Jack, ich
Weitere Kostenlose Bücher