Sherlock Holmes - gesammelte Werke
befindet. Jetzt mir nach, und wir werden bald alles wissen!«
Wir näherten uns der Tür, aber plötzlich trat aus dem Schatten eine Frau hervor und stand vor uns, vom goldigen Schimmer des Lichts übergossen. Ihr vom Lichtschein abgewandtes Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ich sah, wie sie ihre Arme flehend erhob.
»Um Gottes willen, Jack, tu es nicht!«, rief sie mit trauervoller Stimme.
»Lass mich gehen! Ich muss vorbei. Meine Freunde und ich wollen diese Geschichte ein für alle Mal zu Ende bringen.« Er schob sie beiseite, und wir folgten ihm unmittelbar. Als er die Tür weit aufriss, stellte sich ihm eine ältliche Frauensperson in den Weg, aber er stieß sie zurück, und einen Augenblick später waren wir alle auf der Treppe. Grant Munro stürzte in das erleuchtete Zimmer im oberen Stockwerk, und wir folgten ihm auf den Fersen.
Es war ein trauliches, hübsch ausgestattetes Zimmer, von zwei Kerzen auf dem Tisch und zwei anderen auf dem Kaminsims erhellt. Vor einem Sekretär an der Wand, an einen Polsterstuhl gelehnt, stand allem Anschein nach ein kleines Mädchen. Sein Gesicht war abgewandt, als wir eintraten, aber wir konnten sehen, dass es einen roten Rock anhatte und lange weiße Handschuhe trug. Als sie sich uns zukehrte, stieß ich einen Schrei der Überraschung und des Entsetzens aus. Das Gesicht, das sie uns zuwandte, zeigte eine höchst sonderbare fahle Farbe, und die Züge waren völlig ausdrucksleer. Einen Augenblick später war das Geheimnis enthüllt. Holmes fuhr lachend mit der Hand hinter das Ohr des Kindes, eine Maske schälte sich von seinem Angesicht, und vor uns stand ... ein kleines kohlschwarzes Negermädchen, das vor Vergnügen über unsere verdutzten Gesichter alle seine weißen Zähne blitzen ließ. Ich musste in ihr lustiges Lachen einstimmen, aber Grant Munro starrte sie sprachlos an und fuhr sich mit der Hand an die Kehle.
»Mein Gott«, schrie er endlich, »was hat das zu bedeuten?«
»Ich will dir sagen, was es zu bedeuten hat«, rief Mrs Munro, indem sie mit entschlossenem, gefasstem Gesichtsausdruck ins Zimmer trat. »Du hast mich gegen meinen Wunsch zum Reden gezwungen, und nun müssen wir uns beide, so gut es gehen will, damit abfinden. Mein Mann ist in Atlanta gestorben, mein Kind aber ist am Leben geblieben.«
»Dein Kind?«
Sie zog ein silbernes Medaillon aus ihrem Busen. »Du hast dies niemals offen gesehen.«
»Ich dachte, es ginge nicht auf.«
Sie drückte auf eine Feder, und die Vorderseite sprang auf. Es wurde das Porträt eines Mannes sichtbar, der ausnehmend schöne und intelligente Züge besaß, aber die unverkennbaren Merkmale afrikanischer Abstammung aufwies.
»Das ist John Hebron aus Atlanta«, sagte die Dame, »und keiner übertraf ihn an Adel der Gesinnung. Ich zerfiel mit allen Angehörigen meiner Rasse wegen meiner Heirat mit ihm, bereute es aber, solange er am Leben blieb, keinen Augenblick. Es war unser Unglück, dass unser einziges Kind mehr seinem Volk als meinem nachschlug. Das kommt oft in solchen Ehen vor, und unsere kleine Lucy ist weit dunkler, als ihr Vater je war. Aber dunkel oder hell, sie ist ein liebes kleines Mädel und ihrer Mutter Liebling.«
Bei diesen Worten sprang die Kleine auf, lief auf die Dame zu und verbarg ihr Gesicht in deren Kleid.
»Dass ich sie in Amerika ließ«, fuhr Mrs Munro fort, »geschah nur, weil sie von zarter Gesundheit war und der Wechsel ihr hätte schaden können. Sie war der Obhut einer treuen Schottin anvertraut, die vorher in unserem Dienst gestanden hatte. Keinen Augenblick ist es mir auch nur im Traum in den Sinn gekommen, sie als mein Kind verleugnen zu wollen. Als uns das Schicksal aber zusammenführte, Jack, und ich dich lieben lernte, fürchtete ich mich, dir etwas von meinem Kind zu sagen. Gott möge mir vergeben, aber ich glaubte, ich würde dich verlieren, und hatte nicht den Mut, mit dir davon zu reden. Ich musste zwischen euch beiden wählen, und in meiner Schwäche wandte ich mich von meinem eigenen kleinen Mädchen weg. Drei Jahre lang habe ich ihre Existenz vor dir verborgen gehalten, aber ihre Pflegerin gab mir Nachricht, und ich wusste, dass es ihr gut ging. Schließlich konnte ich aber der Sehnsucht nach dem Kind nicht länger widerstehen, und vergebens war mein Bemühen, sie zu unterdrücken. Obgleich ich mir der Gefahr bewusst war, beschloss ich, das Kind herüberkommen zu lassen, und wäre es auch nur auf ein paar Wochen. Ich schickte der Pflegerin hundert Pfund und gab ihr
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