Sherlock Holmes - gesammelte Werke
verabscheuungswerten Angewohnheiten oder, sagen wir, er verfiel in eine scheußliche Krankheit und wurde ein Aussätziger oder Idiot. Sie floh schließlich von ihm fort, kehrte nach England zurück, nahm einen anderen Namen an und begann, wie sie dachte, ein neues Leben. Sie war drei Jahre verheiratet und glaubte, außer aller Gefahr der Entdeckung zu sein, da sie ihrem zweiten Mann die Sterbeurkunde irgendeines Mannes vorgezeigt hatte, dessen Namen sie angenommen, als plötzlich ihr Aufenthalt von ihrem ersten Mann oder, können wir auch annehmen, von irgendeinem gewissenlosen Weib, das sich mit dem Kranken verbunden hat, ausfindig gemacht wird. Sie schreiben an die Frau und drohen ihr, sie würden kommen und die Wahrheit enthüllen. Sie lässt sich hundert Pfund geben und sucht ihr Schweigen zu erkaufen. Sie kommen trotzdem, und als ihr zweiter Mann gelegentlich erwähnt, es seien neue Mieter in dem Häuschen, erkennt sie aus irgendeinem Umstand, dass es ihre Verfolger seien. Sie wartet, bis ihr Gatte eingeschlafen ist, dann eilt sie hin und will sie überreden, sie in Frieden zu lassen. Da ihr Flehen vergeblich ist, geht sie am nächsten Morgen noch einmal hin, und ihr Mann trifft sie beim Fortgehen, wie er uns erzählt hat. Sie verspricht ihm dann, nicht mehr hinzugehen, aber nach zwei Tagen ist der Wunsch, die entsetzliche Nachbarschaft loszuwerden, zu mächtig in ihr, und sie macht einen neuen Versuch, wobei sie ihre Fotografie, die man wahrscheinlich von ihr verlangt hatte, mitnimmt. Während sie noch miteinander verhandeln, stürzt das Mädchen herein mit der Meldung, der Herr sei heimgekommen, worauf die Frau, welche weiß, ihr Mann werde sofort am Platz erscheinen, die Insassen augenblicklich zur Hintertüre hinausgehen heißt, in das Kiefernwäldchen wahrscheinlich, das dicht dabei stehen soll. So findet er das Haus verlassen. Es sollte mich aber sehr wundern, wenn er es heute Abend noch ebenso fände. Was denkst du von meiner Theorie?«
»Das ist alles bloße Vermutung.«
»Aber es stimmt doch mit den uns bekannten Tatsachen überein. Werden uns neue bekannt, mit denen sich meine Theorie nicht vereinigen lässt, dann, aber nur dann, müssen wir sie eben einer Revision unterziehen. Zurzeit können wir nichts weiter tun, bis wir von unserem Freund in Norbury eine neue Botschaft erhalten.«
Wir brauchten nicht lange zu warten. Die Nachricht kam, als wir gerade mit dem Tee fertig waren. Sie lautete:
»Die Mieter sind wieder da. Habe das Gesicht nochmals am Fenster gesehen. Erwarte Sie mit dem Siebenuhrzug und tue keinen Schritt, bis Sie kommen.«
Wir trafen ihn auf dem Bahnsteig, als wir ausstiegen, und konnten beim Schein der Stationslampe sehen, dass er sehr bleich war und vor Aufregung zitterte.
»Sie sind noch da, Mr Holmes!«, sagte er und legte seine Hand auf die Schulter meines Freundes. »Ich habe Licht im Haus gesehen, als ich vorbeikam. Wir müssen es jetzt ein für alle Mal herausfinden.«
»Wie ist also Ihr Plan?«, fragte Holmes, als wir die dunkle, baumbepflanzte Straße hinuntergingen.
»Ich will mir gewaltsam Eingang verschaffen und selbst sehen, wer im Haus ist. Sie beide wünsche ich als Zeugen dabeizuhaben.«
»Sie sind hierzu entschlossen trotz der Warnung Ihrer Frau, es sei besser, Sie drängen nicht in das Geheimnis?«
»Ja, ich bin entschlossen.«
»Gut. Ich denke, Sie haben recht. Jede Wahrheit ist besser als quälender Zweifel ohne Ende. Es ist besser, wir gehen sofort daran. Freilich, dass wir dabei gesetzwidrig handeln, ist nur allzu klar. Aber ich denke, unter den Umständen können wir es riskieren.«
Es war eine sehr finstere Nacht, und ein leichter Regen setzte ein, als wir von der Landstraße in den enorm tief ausgefahrenen Heckenweg einbogen. Mr Grant Munro drängte jedoch ungeduldig vorwärts, und wir stolperten hinter ihm drein, so gut wir eben konnten.
»Dort sind die Lichter meines Hauses«, murmelte er, auf einen Schimmer zwischen den Bäumen weisend, »und das hier ist das Landhaus, in das ich hineinwill.«
Während er dies sagte, bog sich der Weg, und das Gebäude lag dicht neben uns. Ein gelber Lichtschein, der über den dunklen Vordergrund lief, ließ uns erkennen, dass die Tür nicht völlig geschlossen war, und ein Fenster im oberen Stockwerk war hell erleuchtet. Als wir hinschauten, sahen wir durch die Fensterblenden einen schwarzen Fleck sich bewegen.
»Das ist das Geschöpf!«, rief Grant Munro. »Sie können selbst sehen, dass sich dort jemand
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