Sherlock Holmes - gesammelte Werke
eigenes Zimmer schleichen und bei der Stimme ihres Mannes zusammenschrecken zu sehen.
›Du wach, Jack?‹, rief sie mit nervösem Lachen. ›Ich dachte, dich könnte nichts aufwecken.‹
›Wo bist du gewesen?‹, fragte ich in strengerem Ton.
›Ich wundere mich nicht, dass du erstaunt bist‹, sagte sie, und ich konnte sehen, wie ihre Finger zitterten, als sie ihren Mantel aufknöpfte. ›Ich glaube auch nicht, dass ich jemals im Leben schon so etwas getan habe. Die Sache ist die: Mir war, als müsste ich ersticken, und es drängte mich unwiderstehlich, etwas frische Luft zu schöpfen. Ich wäre, glaube ich, ohnmächtig geworden, wäre ich nicht hinausgegangen. Ich habe ein paar Minuten an der Tür gestanden, und jetzt ist mir wieder ganz wohl.‹
Während sie das vorbrachte, sah sie mich nicht einmal an, und ihre Stimme klang ganz anders als gewöhnlich. Für mich stand fest, dass sie die Unwahrheit gesagt hatte. Ich erwiderte kein Wort, sondern wandte mein Gesicht der Wand zu, mit einem verwundeten, von Zweifel und Argwohn erfüllten Herzen. Was verhehlte meine Frau vor mir? Was war das Ziel ihrer nächtlichen Wanderung gewesen? Ich fühlte, ich könnte keine Ruhe mehr finden, bis ich’s wüsste, und doch wollte ich sie nicht noch einmal fragen, nachdem sie mir etwas vorgelogen hatte. Den ganzen Rest der Nacht zermarterte ich mein Gehirn und konstruierte immer neue Theorien, eine immer unwahrscheinlicher als die andere.
Am nächsten Tag hatte ich eigentlich in der Stadt zu tun, aber ich war in meinem Sinn zu verstört, um Gedanken für Geschäftssachen übrig zu haben. Meine Frau schien ebenso unruhig zu sein wie ich, und aus den schnellen prüfenden Blicken, die sie mir von Zeit zu Zeit zuwarf, konnte ich sehen, sie merkte wohl, dass ich ihr nicht glaubte, und sie war ratlos, was sie tun sollte. Beim Frühstück wechselten wir kaum ein Wort, und kurz danach ging ich fort, um die Sache in der frischen Morgenluft von Neuem zu überdenken.
Ich kam bis zum Kristallpalast, hielt mich eine Stunde im Park auf und war so um ein Uhr wieder in Norbury. Mehr zufällig wählte ich von der Station heimwärts einen Weg, der mich bei dem Häuschen vorüberführte, und blieb einen Augenblick stehen und sah nach den Fenstern, ob etwa wieder das sonderbare Gesicht da wäre, das mich am Tag vorher so angestarrt hatte. Wie ich dastand – denken Sie sich meine Überraschung, Mr Holmes! –, ging auf einmal die Tür auf, und meine Frau kam heraus!
Bei ihrem Anblick war ich starr vor Erstaunen, aber meine Erregung war nichts im Vergleich mit der, die sich in ihrem Gesicht malte, als unsere Augen sich begegneten. Einen Augenblick schien sie in das Haus zurückfahren zu wollen; dann aber, als sie sah, jedes Verhehlen sei unnütz, kam sie mit kreideweißem Gesicht und schreckerfüllten Augen, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen straften, auf mich zu.
›Oh, Jack!‹, sagte sie. ›Ich war eben drin, um zu sehen, ob ich unseren neuen Nachbarn mit irgendetwas behilflich sein könnte. Was siehst du mich so an, Jack? Du bist mir doch nicht böse?‹
›So!‹, sagte ich. ›Also hieher bist du in der Nacht gegangen?‹
›Was willst du damit sagen?‹, rief sie.
›Du bist hier gewesen. Das ist gewiss. Wer sind die Leute, dass du sie nächtlicherweile aufsuchst?‹
›Ich bin nicht hier gewesen.‹
›Wie kannst du das sagen, wenn du doch selbst weißt, dass es nicht wahr ist?‹, rief ich. ›Schon deine veränderte Stimme verrät dich. Wann habe ich je ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich werde jetzt in das Haus hineingehen und der Sache auf den Grund kommen.‹
›Nein, nein, Jack, um Gottes willen!‹, stöhnte sie, außerstande, ihre furchtbare Aufregung länger zu bemeistern, und als ich auf die Tür losschritt, ergriff sie mich am Ärmel und zerrte mich mit krampfhafter Anstrengung zurück.
›Ich flehe dich an, Jack, tu das nicht!‹, rief sie. ›Ich schwöre dir, du wirst eines Tages alles erfahren; aber nichts als Jammer kann herauskommen, gehst du jetzt in das Haus.‹ Und als ich sie abzuschütteln versuchte, hing sie sich an mich und beschwor mich mit wahnsinnigem Flehen.
›Vertrau mir, Jack!‹, rief sie. ›Vertrau mir nur dies eine Mal! Du wirst es nie zu bereuen haben. Du weißt, ich würde dir nichts verhehlen, wäre es nicht um deiner selbst willen. Unser ganzes Lebensglück hängt daran. Gehst du mit mir heim, wird alles wieder gut werden. Dringst du aber mit Gewalt in das Haus da, ist alles
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