Sherlock Holmes - gesammelte Werke
hätten eindringen dürfen. Es war dreiviertel auf zehn, ehe wir London Bridge erreichten, und halb elf, ehe wir vier in Beckenham ausstiegen. Eine Droschkenfahrt von fünf Minuten brachte uns nach The Myrtles – ein großes, düsteres Gebäude, das etwas abseits von der Straße in einem dazugehörigen Garten stand.
Wir schickten die Droschke fort und schritten auf das Haus zu.
»Die Fenster sind sämtlich dunkel«, bemerkte der Inspektor. »Das Haus scheint unbewohnt zu sein.«
»Unsere Vögel sind ausgeflogen, und das Nest ist leer«, sagte Sherlock.
»Warum meinen Sie das?«
»Ein schwer beladener Lastwagen ist während der letzten Stunde herausgefahren.«
Der Inspektor lachte. »Ich habe die Räderspuren im Schein der Hoftorlampe gesehen. Aber wo kommt der Lastwagen her?«
»Sie haben vielleicht dieselben Räderspuren in der umgekehrten Richtung, das heißt von der Einfahrt des Wagens gesehen. Aber die nach außen führenden waren weit tiefer – in dem Maße, dass wir getrost sagen können, der Wagen muss schwer beladen gewesen sein.«
»Nach der Richtung sind Sie mir ein bisschen über«, sagte der Inspektor achselzuckend. »Die Tür wird sich nicht leicht aufbrechen lassen. Doch wir wollen sehen, ob wir uns nicht Gehör verschaffen können.«
Er hämmerte mit dem Klopfer und zog an der Klingel, aber ohne allen Erfolg. Holmes hatte sich leise entfernt, kam aber in wenigen Minuten wieder.
»Ich habe ein Fenster offen«, sagte er.
»Gott sei Dank, dass Sie für die Polizei sind und nicht gegen sie, Mr Holmes!«, bemerkte der Inspektor, als er wahrnahm, wie findig und geschickt mein Freund den Fensterriegel zurückgeschoben hatte. »Nun, ich denke, unter den Umständen können wir eintreten, ohne eine Einladung abzuwarten.«
Einer nach dem anderen gelangten wir in ein geräumiges Gemach, offenbar dasselbe, in dem Mr Melas gewesen war. Der Inspektor hatte seine Laterne angezündet, und bei ihrem Schein konnten wir die beiden Türen, die Plüschstühle, die Lampe und die japanischen Waffen erkennen, wie sie uns der Dolmetscher beschrieben hatte. Auf einem Tisch standen zwei Gläser, eine leere Brandyflasche und die Reste einer Mahlzeit.
»Was ist das?«, fragte Holmes plötzlich.
Wir standen alle still und horchten. Ein leises Stöhnen ließ sich irgendwo über unseren Häuptern vernehmen. Holmes stürzte zur Tür und in den Hausflur hinaus. Der grässliche Ton kam vom oberen Stockwerk. Er sprang die Treppe hinauf, der Inspektor und ich folgten ihm auf den Fersen, während sein Bruder Mycroft so schnell, wie es ihm seine Körpermasse erlaubte, hinterdrein keuchte.
Drei Türen sahen wir im oberen Stockwerk vor uns, und aus der mittleren kamen die unheilvollen Laute, die bald in dumpfes Gemurmel sich verloren, bald sich zu schrillem Heulen steigerten. Die Tür war verschlossen, aber der Schlüssel steckte außen. Holmes riss sie auf und stürzte hinein, doch im nächsten Augenblick war er wieder bei uns, mit der Hand an der Kehle.
»Es ist Teerkohle!«, rief er. »Nur ein wenig Zeit, es wird sich klären!«
Wir spähten hinein, konnten aber nur bemerken, dass der Lichtschein im Zimmer ausschließlich von einer matten blauen Flamme ausging, die aus einem kleinen Messingbecken in der Mitte des Zimmers aufflackerte. Sie warf einen bleichen, unheimlichen Lichtkreis auf den Boden, während wir in dem Dämmerschatten, der den Rest des Zimmers erfüllte, den unbestimmten Umriss zweier an die Wand gelehnten Gestalten gewahrten. Durch die offene Tür drang ein schauerlicher giftiger Dunst, der uns nach Luft schnappen und husten ließ. Holmes sprang zurück an die Treppenöffnung, um frische Luft einzuziehen, dann war er wieder in zwei Sätzen im Zimmer, riss das Fenster auf und schleuderte das Kohlenbecken hinaus in den Garten.
»In einer Minute können wir hinein«, keuchte er, wieder zu uns zurückeilend. »Wo ist eine Kerze? Ich zweifle, ob wir in dieser Atmosphäre ein Streichholz zum Brennen bringen können. Halte das Licht an den Türeingang, und wir kriegen sie heraus, Mycroft! Vorwärts!«
Auf dieses Wort stürzten wir hinein, packten die Vergifteten und zogen sie hinaus auf den Treppenflur. Beide waren besinnungslos, ihre Lippen blau, die Gesichter geschwollen, die Augen hervorgequollen. Kaum konnten wir in den verzerrten Zügen des einen Opfers den Dolmetscher wiedererkennen, mit dem wir vor wenigen Stunden im Diogenes-Klub zusammengewesen waren. Seine Hände und Füße waren mit Stricken
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