Sherlock Holmes - gesammelte Werke
gebunden, und über einem Auge konnten wir die Spur eines heftigen Schlages bemerken. Der andere, den man ebenfalls gebunden hatte, war ein hochgewachsener, fast zum Skelett abgemagerter Mann, dessen Gesicht durch aufgeklebte Streifen von Heftpflaster ein groteskes Muster zeigte. Er hatte aufgehört zu stöhnen, als wir ihn niederlegten, und ein Blick auf ihn sagte mir, dass wir für ihn wenigstens zu spät gekommen waren. Dagegen war Mr Melas noch am Leben. Nach knapp einer Stunde war es uns mit Hilfe von Ammoniak und Brandy zu meiner Genugtuung als Arzt gelungen, ihn dahin zu bringen, dass er die Augen aufschlug, und ich konnte mich des Bewusstseins freuen, ihn mit meiner Hand vom Rand des dunklen Tales weggezogen zu haben, in das alle irdischen Pfade münden.
Was er uns zu erzählen hatte, war sehr einfach und bestätigte nur unsere Diagnose des Falles. Sein Besucher hatte, kaum dass er ins Zimmer getreten war, unter seinem Rock einen ›Totschläger‹ hervorgezogen und ihn durch die Angst vor augenblicklichem, unentrinnbarem Tod dermaßen eingeschüchtert, dass er ihn zum zweiten Mal entführen konnte. In der Tat hatte der kichernde Schurke fast einen mesmerischen Einfluss auf den unglücklichen Sprachkundigen ausgeübt, denn er konnte nur mit bebenden Gliedern und fahlen Wangen von ihm sprechen. In Beckenham, wohin die Fahrt wie das erste Mal gegangen war, hatte er nochmals als Dolmetscher dienen müssen. Diese zweite Verhandlung war noch dramatischer verlaufen als die erste, denn die beiden Engländer hatten ihren Gefangenen bei erneuter Weigerung, ihrem Verlangen nachzukommen, mit sofortigem Tod bedroht. Als sie ihn aber gegen jede Drohung unempfindlich fanden, hatten sie ihn in sein Gefängnis zurückgeschleppt. Sodann hielten sie Melas seinen Verrat vor, den sie richtig aus den Anzeigen in den Tagesblättern erfahren hatten, und betäubten ihn unversehens durch einen heftigen Stockschlag. Das Erste, dessen er sich weiter erinnern konnte, waren unsere sich besorgt über ihn beugenden Gesichter. – –
Das war also der merkwürdige Fall des griechischen Dolmetschers, dessen Erklärung noch manchen dunklen Punkt enthält. Von dem Herrn, der sich auf die Anzeige gemeldet hatte, brachten wir in Erfahrung, dass die unglückliche junge Dame einer reichen griechischen Familie entstammte und zum Besuch einer befreundeten Familie nach England gekommen war. Dort hatte sie einen jungen Mann namens Harald Latimer kennengelernt, der einen übermächtigen Einfluss über sie gewann und sie schließlich zur Flucht mit ihm überredete. Ihre Wirte hatten sich damit begnügt, ihrem Bruder in Athen Mitteilung zu machen, und im Übrigen sich nicht weiter um die unangenehme Sache gekümmert. Der Bruder, der, sobald er konnte, nach England gereist war, hatte sich hier unvorsichtigerweise in die Gewalt des Latimer sowie seines Genossen begeben, und dieser Letztere, ein gewisser Wilson Kemp, war ein Mann mit der anrüchigsten Vergangenheit. Da diese beiden erkannten, dass der Grieche infolge seiner gänzlichen Unkenntnis der Landessprache ein hilfloses Werkzeug in ihren Händen war, hatten sie ihn gefangen gehalten und versucht, ihn durch grausame Behandlung und Nahrungsentziehung dahin zu bringen, dass er ihnen sein eigenes Vermögen und das seiner Schwester abtrat. Der Schwester war sein Aufenthalt im Haus verheimlicht worden, und das Pflaster auf seinem Gesicht hatte dem Zweck dienen sollen, das Wiedererkennen möglichst zu verhindern für den Fall, dass sie ihn doch zufällig in einem unbewachten Moment erblicken sollte. Ihr weiblicher Instinkt hatte ihn aber trotz dieser Maskierung sofort erkannt, als sie ihn bei Gelegenheit der ersten Anwesenheit des Dolmetschers zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Jedoch die Arme war selbst eine Gefangene, denn im ganzen Haus befand sich kein weiteres lebendes Wesen außer dem Kutscher und seiner Frau, die beide im Sold von Kemp und Latimer standen. Als diese eingesehen hatten, dass ihr Geheimnis entdeckt war und ihr Gefangener sich auf keine Weise zur Unterschrift zwingen ließ, waren sie mit dem Mädchen unter Mitnahme des wertvollsten Hausrats entflohen, nachdem sie erst ihrer Meinung nach ihre Rache gekühlt hatten sowohl an dem, der ihnen Trotz geboten, wie an dem, der sie verraten.
Nach Monaten kam ein Zeitungsausschnitt aus einem Budapester Blatt mit einer sonderbaren Mitteilung in unsere Hände. Es war darin von dem tragischen Ende zweier Engländer, die in Begleitung einer Frau
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