Sherlock Holmes - gesammelte Werke
vorbeigekommen?‹
›Ich stehe seit einer Viertelstunde hier‹, entgegnete er; ›während dieser Zeit ist nur eine Person hier vorübergegangen – ein großes, schon bejahrtes Frauenzimmer mit einem Umschlagetuch.‹
›Ach, das ist gewiss nur meine Frau gewesen‹, meinte der Türhüter, ›sonst haben Sie niemand gesehen?‹
›Keinen Menschen.‹
›Dann muss der Dieb nach der anderen Seite entkommen sein‹, rief der Türhüter, mich am Ärmel fassend.
Doch ich gab mich nicht so leicht zufrieden, und je mehr er versuchte, mich mit sich fortzuziehen, umso argwöhnischer wurde ich.
›Welche Richtung hat die Frau eingeschlagen?‹, fragte ich.
›Das weiß ich nicht‹, antwortete der Polizist. ›Ich sah sie vorbeigehen, hatte aber keinen besonderen Grund, ihr nachzuspüren. Sie schien es sehr eilig zu haben.‹
›Wie lange ist es her?‹
›Höchstens ein paar Minuten.‹
›Wie viele denn – etwa fünf?‹
›Sicherlich nicht mehr.‹
›Sie verlieren nur unnütz Zeit, Mr Phelps‹, rief der Türhüter. ›Meine Alte hat nichts mit der Sache zu tun, verlassen Sie sich darauf. Sie ist nach unserer Wohnung gegangen, wo Sie sie finden werden.‹
›Wo wohnen Sie?‹, fragte ich.
›In Brixton, Epheu Lane Nr. 16; aber folgen Sie nicht der falschen Fährte, Mr Phelps. Sie verlieren nur unnütz Zeit.‹
Wir kehrten nun in das Ministerium zurück und durchsuchten die Treppen und Gänge, jedoch ohne Erfolg. Der Korridor, der zu meinem Arbeitszimmer führt, war mit einem hellfarbenen Linoleum belegt, auf dem jeder Tritt zu sehen ist. Obwohl wir es sorgfältig besichtigten, fanden sich keine Fußspuren.«
»Hatte es den ganzen Abend geregnet?«
»Etwa von sieben Uhr an.«
»Wie kam es dann, dass die Frau, die gegen neun Uhr bei Ihnen im Zimmer war, dort keine Spur ihrer schmutzigen Stiefel zurückließ?«
»Es ist mir lieb, dass Sie den Umstand erwähnen; auch mir fiel das damals auf. Die Putzfrauen pflegen in der Stube des Türhüters die Stiefel zu wechseln und Salbandschuhe anzuziehen.«
»Das erklärt die Sache. Also Sie fanden keinen Abdruck auf dem Fußboden, trotz der Nässe draußen? Der Tatbestand ist wirklich höchst merkwürdig. Bitte erzählen Sie weiter.«
»Nun untersuchten wir das Zimmer. An eine geheime Tür war nicht zu denken, und die Fenster sind wohl dreißig Fuß hoch über der Straße; beide waren geschlossen und verriegelt. Eine etwaige Falltür ließe sich schon des Teppichs wegen nicht öffnen, und die Decke ist weißgetüncht. Ich möchte meinen Kopf wetten, dass der Dieb, der das Schriftstück gestohlen hat, nur zur Stubentür hereingekommen sein kann.«
»Wie steht’s mit dem Kamin?«
»Es ist keiner vorhanden, nur ein Ofen ist da. Die Klingelschnur hängt am Draht, rechter Hand von meinem Schreibpult. Wer geläutet hat, muss dicht am Pult gestanden haben. Aber warum sollte ein Dieb die Glocke ziehen? Es ist ein ganz unergründliches Geheimnis.«
»Freilich, der Umstand ist verwunderlich. – Was taten Sie nun für Schritte? Hatte der Eindringling nichts im Zimmer zurückgelassen – sahen Sie keinen Zigarrenstumpf, keine Haarnadel oder sonst eine Kleinigkeit herumliegen?«
»Nicht das Geringste.«
»Sie bemerkten auch keinen Geruch?«
»Darauf haben wir nicht geachtet.«
»Bei solcher Untersuchung wäre es von Wichtigkeit, wenn das Zimmer zum Beispiel nach Tabak gerochen hätte.«
»Ich bin selbst kein Raucher, und ein Tabakgeruch wäre mir gewiss aufgefallen. Wir fanden nicht den geringsten Aufschluss. Die einzig greifbare Tatsache war, dass des Türhüters Weib – Mrs Tangey ist ihr Name – sich eilig davongemacht hatte. Obwohl ihr Mann erklärte, seine Frau gehe um diese Zeit gewöhnlich nach Hause, kam ich mit dem Polizisten überein, dass wir suchen müssten, der Frau habhaft zu werden, ehe sie Zeit hätte, sich der Papiere zu entledigen – vorausgesetzt, dass diese überhaupt in ihrem Besitz waren.
Inzwischen hatte man das Polizeiamt benachrichtigt, und Forbes, der Geheimpolizist, fand sich sofort ein, übernahm den Fall und entwickelte die größte Tatkraft. Wir bestiegen eine Droschke, sagten dem Kutscher die Adresse, und eine halbe Stunde später hielten wir vor Mrs Tangeys Wohnung. Ein junges Mädchen, ihre älteste Tochter, wie wir später erfuhren, öffnete uns. Die Mutter war noch nicht zurück, und wir mussten im Wohnzimmer warten.
Etwa zehn Minuten später klopfte es an der Haustür, und nun begingen wir einen unverzeihlichen Missgriff.
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