Sherlock Holmes - gesammelte Werke
die Blässe und Magerkeit des armen Phelps nur noch auffallender.
»Um so wenig wie möglich von Ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen, will ich Ihnen die Sache ohne alle Umschweife vortragen«, sagte er, sich auf dem Sofa in die Höhe richtend. »Ich war ein lebensfroher, vom Glück begünstigter Mann und stand im Begriff, mich zu verheiraten, als ein unerwartetes, furchtbares Missgeschick plötzlich meine ganze Zukunft zerstörte.
Watson hat Ihnen vielleicht mitgeteilt, dass ich eine Stelle im Auswärtigen Amt bekleidete. Durch Lord Holdhursts, meines Onkels, Einfluss war ich rasch auf einen verantwortlichen Posten gestellt worden. Als mein Onkel Minister des Äußeren wurde, gab er mir verschiedene wichtige Aufträge, die ich stets so glücklich zum Abschluss brachte, dass er zuletzt ein unbegrenztes Vertrauen in meine Umsicht und Leistungsfähigkeit setzte.
Vor etwa zehn Wochen – oder um ganz genau zu sein, am 23. Mai – rief er mich in sein Privatzimmer, lobte mich wegen der guten Dienste, die ich ihm bisher geleistet, und teilte mir mit, dass er mir wieder die Ausführung eines wichtigen Geschäfts anvertrauen wolle.
›Das hier‹, sagte er und nahm eine graue Papierrolle aus seinem Schreibtisch, ›ist das Original eines geheimen Vertrages zwischen England und Italien. Zu meinem größten Bedauern sind schon Gerüchte über seinen Inhalt durch die Presse an die Öffentlichkeit gedrungen, und es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dass nichts Näheres bekannt wird. Die französische und russische Gesandtschaft würden gern große Summen bezahlen, um sich einen Einblick in diese Schrift zu verschaffen. Am liebsten behielte ich die Papiere ganz bei mir im Schreibtisch, wäre es nicht unumgänglich nötig, eine Kopie davon anfertigen zu lassen. Du hast doch ein Pult mit gutem Verschluss in deinem Büro?‹
›Jawohl.‹
›Dann nimm den Vertrag und schließe ihn sorgfältig ein. Ich werde es einzurichten wissen, dass du nach Schluss der Geschäftsstunden allein zurückbleiben und die Abschrift ungestört machen kannst, ohne zu fürchten, dass man dich dabei beobachtet. Wenn du fertig bist, schließe Original und Kopie wieder in das Pult und händige mir beides morgen früh persönlich aus.‹
Ich nahm die Papiere ...«
»Bitte, einen Augenblick«, unterbrach ihn Holmes, »waren Sie beide allein während dieser Unterredung?«
»Ganz allein.«
»In einem großen Raum?«
»Das Zimmer mag etwa dreißig Fuß lang sein und ebenso breit.«
»Sie standen in der Mitte?«
»Ja, ungefähr.«
»Und sprachen nicht laut?«
»Mein Onkel spricht gewöhnlich mit sehr leiser Stimme, und ich habe fast nichts gesagt.«
»Danke sehr«, versetzte Holmes und schloss die Augen. »Bitte fahren Sie fort.«
»Ich tat alles, wie er es mir vorgeschrieben hatte und wartete, bis die anderen Angestellten sich entfernten. Einer von ihnen, Charles Gorot, der mit mir im selben Zimmer arbeitete, hatte noch einige Rückstände zu erledigen; ich ließ ihn da und ging zum Essen. Als ich zurückkam, war er fort. Nun machte ich mich gleich ans Werk, denn ich wünschte, so schnell wie möglich mit der Arbeit fertig zu werden. Josef Harrison, den Sie hier gesehen haben, war in der Stadt; ich wusste, dass er mit dem Elfuhrzug nach Woking fahren wollte und hätte ihn gern begleitet.
Als ich den Vertrag in Augenschein nahm, erkannte ich sofort, dass mein Onkel die Wichtigkeit des Dokuments keineswegs übertrieben hatte. Ohne mich auf Einzelheiten einzulassen, will ich nur erwähnen, dass darin die Stellung Großbritanniens zum Dreibund klargelegt und auseinandergesetzt war, welchen politischen Standpunkt England einnehmen würde, falls die französische Flotte im Mittelländischen Meer ein vollkommenes Übergewicht über die italienische Seemacht erringen sollte. Es handelte sich überhaupt ausschließlich um Fragen, welche die Marine betrafen. Rasch überflog ich noch die Namen der hohen Würdenträger, die den Vertrag unterzeichnet hatten, und machte mich dann an die Abschrift.
Das umfangreiche Dokument enthielt sechsundzwanzig Artikel und war in französischer Sprache abgefasst. Ich schrieb, so schnell ich konnte, doch hatte ich, als es neun Uhr schlug, nicht mehr als neun Artikel fertig; dass ich den Zug noch erreichen würde, schien aussichtslos. Von dem Abendessen war ich schläfrig geworden, auch hatte ich nach der langen Tagesarbeit ein dumpfes Gefühl im Kopf und glaubte, eine Tasse Kaffee würde mich auffrischen. Am Fuß der Treppe hat
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