Sherlock Holmes - gesammelte Werke
sein, bis ich Sie wiedersehe«, sagte der junge Diplomat seufzend.
»Erwarten Sie mich morgen mit demselben Zuge; ich will kommen, auch wenn ich nur negative Ergebnisse zu melden habe.«
»Gott segne Sie für Ihr Versprechen«, rief unser Klient. »Schon der Gedanke, dass etwas in der Sache geschieht, gibt mir neues Leben. – Was ich noch sagen wollte: Lord Holdhurst hat mir geschrieben!«
»So? Und wie äußerte er sich?«
»Sein Brief ist kühl, aber nicht unfreundlich. Wahrscheinlich hat ihn meine lange Krankheit milde gestimmt. Er wiederholt, dass die Sache von größter Wichtigkeit ist, doch werde man keine Schritte betreffs meiner Zukunft tun – er meint natürlich die Entlassung aus dem Staatsdienst –, bis meine Gesundheit wiederhergestellt ist und ich Gelegenheit gehabt habe, die Scharte auszuwetzen.«
»Nun, das nenne ich vernünftig und rücksichtsvoll«, sagte Holmes. »Kommen Sie, Watson, wir haben heute in der Stadt noch viel Arbeit vor uns.«
Josef Harrison fuhr uns selbst auf den Bahnhof, und bald sausten wir mit dem Portsmouth-Zug davon. Holmes saß ganz in Gedanken vertieft da und öffnete erst den Mund, als wir über Clapham hinaus waren.
»Es wirkt sehr erheiternd, wenn man auf solcher Hochbahn nach London hineinfährt, wie wir jetzt, und auf die Häuser hinabsieht.«
Ich glaubte, er spräche im Scherz, denn die Aussicht war ganz abscheulich, aber er fuhr unbeirrt fort:
»Sehen Sie nur die großen ziegelroten Häuservierecke, die über die Schieferdächer emporragen wie Inseln aus einer bleifarbenen See.«
»Das sind die Volksschulen.«
»Die wahren Leuchttürme der Zukunft, alter Junge! Es sind Samenkapseln, von denen jede viele Hunderte von kleinen, lebendigen Körnern enthält, aus denen das bessere, weisere England der Zukunft entsprießen wird. – Was meinen Sie – ob Mr Phelps wohl trinkt?«
»Das glaube ich kaum.«
»Ich auch nicht. Aber man muss eben jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Der arme Teufel ist in eine tiefe Grube gefallen, und ob wir ihn herausholen können, ist sehr fraglich. – Was halten Sie von Miss Harrison?«
»Sie ist ein sehr starker Charakter.«
»Aber auch gut, wenn mich nicht alles täuscht. Sie und ihr Bruder sind die einzigen Kinder eines Hüttenbesitzers irgendwo oben in Northumberland. Phelps hat sich letzten Winter auf der Reise mit ihr verlobt, und sie ist in Begleitung ihres Bruders auf Besuch gekommen, um die Verwandten des Bräutigams kennenzulernen. Als dann der Krach kam, ist sie zur Pflege dageblieben, und Bruder Josef, der sich sehr behaglich fühlte, wollte auch nicht fort. Sie sehen, ich habe schon unter der Hand verschiedene Erkundigungen eingezogen. Aber heute müssen wir noch viel zu erfahren suchen.«
»Meine Praxis ...«, begann ich.
»Oh, wenn Ihnen Ihre Fälle mehr am Herzen liegen als meiner ...«, unterbrach mich Holmes etwas hitzig.
»Ich wollte nur sagen, dass mich meine Praxis einen oder zwei Tage entbehren kann, da es gerade die flaueste Zeit im Jahr ist.«
»Vortrefflich«, sagte er mit wiedergewonnener guter Laune. »Dann wollen wir die Sache zusammen ergründen. Ich denke, wir suchen zuerst Forbes auf. Er kann uns wahrscheinlich über alle Einzelheiten unterrichten, die wir brauchen, bis sich herausstellt, von welcher Seite der Geschichte eigentlich beizukommen ist.«
»Hatten Sie nicht schon einen Anhaltspunkt?«
»Sogar mehrere. Aber erst bei genauerer Erkundigung wird sich finden, was sie wert sind. Zwecklose Verbrechen lassen sich am Schwersten aufspüren. Doch dieses ist nicht zwecklos. Wer könnte Nutzen daraus ziehen? – Der französische Gesandte, der russische Gesandte und jeder, der einem von beiden den Vertrag verkauft, ferner Lord Holdhurst.«
»Lord Holdhurst?«
»Unmöglich ist es nicht, dass ein Staatsmann einmal in eine Lage gerät, die es ihm wünschenswert erscheinen lässt, wenn ein solches Schriftstück durch Zufall vernichtet wird.«
»Aber kein Ehrenmann wie Lord Holdhurst.«
»Ich spreche nur von einer Möglichkeit, die wir nicht aus den Augen lassen dürfen. Wir werden den edlen Lord noch heute sehen und erfahren, ob er uns etwas mitzuteilen hat. Inzwischen habe ich schon allerlei Schritte getan.«
»Schon jetzt?«
»Ja, ich habe auf dem Bahnhof in Woking an die Zeitungsredaktionen in London telegrafiert. Diese Anzeige hier wird in den Abendblättern erscheinen.«
Er reichte mir ein Blatt, das aus einem Notizbuch herausgerissen war und folgende, mit Bleistift gekritzelte Worte
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