Sherlock Holmes - gesammelte Werke
entspricht, zu erwählen und mich völlig meinen chemischen Untersuchungen zu widmen. Aber es ließe mir keine Ruhe, Watson, nicht einen Augenblick vermöchte ich still zu sitzen bei dem Gedanken, dass ein Mensch wie dieser Moriarty durch unsere Straßen wandelt, ohne dass jemand den Kampf mit ihm aufnimmt.«
»Was hat er denn begangen?«
»Er hat eine merkwürdige Laufbahn hinter sich. Er ist aus guter Familie, hat eine vortreffliche Bildung genossen und besitzt eine phänomenale Begabung für Mathematik. Mit einundzwanzig Jahren schrieb er eine Abhandlung über die Theorie der Binome, die in ganz Europa Aufsehen gemacht hat. Dadurch errang er sich einen mathematischen Lehrstuhl an einer unserer kleinen Hochschulen, sodass er allem Anschein nach am Anfang einer glänzenden Laufbahn stand. Allein der Mann war erblich belastet mit einem ihm tief im Blut liegenden wahrhaft teuflischen Hang zum Verbrechen, der durch seine außerordentlichen Geistesgaben nicht nur nicht eingedämmt wurde, sondern im Gegenteil dadurch noch bedeutend an Stärke und selbstverständlich vor allem an Gefährlichkeit zunahm. Es bildete sich um seine Person am Ort seiner Tätigkeit ein Dunstkreis von allerlei dunklen Gerüchten, sodass er sich schließlich genötigt sah, sein Lehramt niederzulegen und sich in London als Einpauker für die Offizierprüfung niederzulassen. So viel ist überall von ihm bekannt, dagegen habe ich das, was ich Ihnen jetzt sagen will, durch eigene Nachforschungen ermittelt.
Sie wissen ja wohl, Watson, dass niemand die höhere Verbrecherwelt so gut kennt als ich. Nun fiel mir schon seit Jahren fortwährend auf, dass hinter dem Verbrecher irgendeine Macht stehen müsse, eine geheimnisvolle Macht, die dem Gesetz überall planmäßig und systematisch in den Weg trat, dagegen den Übeltätern ihren Schutz lieh. Immer und immer wieder bei Fällen der verschiedensten Art, bei Einbrüchen, bei sonstigen Diebstählen, bei Mordtaten stieß ich auf die Spuren dieser Macht, und bei einer ganzen Reihe von unaufgeklärt gebliebenen Verbrechensfällen, in denen ich keinen persönlichen Rat erteilt hatte, musste ich zu der Überzeugung gelangen, dass dieser Umstand nur dem Walten jener Macht zuzuschreiben sei. Jahrelang habe ich daran gearbeitet, den Schleier zu lüften, in den dieselbe sich hüllte, und endlich war ich so weit, dass ich meinen Faden aufnehmen und verfolgen konnte, bis er mich auf tausendfachen künstlichen Irrwegen zu dem berühmten Mathematiker, dem vormaligen Professor Moriarty, hinleitete.
Er ist der Napoleon des Verbrechens, Watson. Die Hälfte aller Verbrechen in dieser Weltstadt überhaupt, und nahezu alle diejenigen, die unentdeckt bleiben, sind von ihm ins Werk gesetzt. Er ist ein Genie, ein Philosoph, ein Denker. Er besitzt ein Gehirn ersten Ranges. Regungslos sitzt er gleich einer Spinne im Mittelpunkt eines Netzes, allein dieses läuft in Tausende von Fäden aus, und er spürt das leiseste Zucken eines jeden derselben.
Er selbst tut nur wenig, er entwirft nur den Plan. Aber er besitzt zahlreiche trefflich organisierte Hilfskräfte. Handelt es sich darum, ein Verbrechen auszuführen, wir wollen zum Beispiel sagen, eine Urkunde zu entwenden, ein Haus auszurauben, einen Menschen zu beseitigen – man gibt dem Professor die Losung, und sofort wird die Sache ins Werk gesetzt und zur Ausführung gebracht. Der Helfershelfer fällt vielleicht der Polizei in die Hände. In diesem Fall fehlt es niemals an Geld zur Sicherheitsleistung für seine Person oder zu seiner Verteidigung vor Gericht. Aber die leitende Macht, in deren Diensten der Betreffende steht, wird niemals gefasst– nicht eine Spur von Verdacht fällt auf sie. Dies war das Ergebnis meiner Feststellungen, und ich habe meine volle Kraft daran gesetzt, um dieses ganze Gewebe klar zu legen und zu vernichten.
Allein, der Professor war rings von einem so schlau ausgedachten Schutzwall umgeben, dass alle meine Bemühungen, seine Überweisung vor Gericht zu ermöglichen, vergeblich schienen. Sie wissen, was ich leisten kann, mein lieber Watson, trotzdem sah ich mich nach drei Monaten zu dem Bekenntnis genötigt, dass ich diesmal zum wenigsten einen mir geistig gleichstehenden Gegner gefunden habe.
Ich war nicht mehr imstande, mich über sein verbrecherisches Treiben zu entsetzen, so groß war meine Bewunderung für seine Schlauheit. Allein endlich ließ er sich doch ein Versehen beikommen – nur ein einziges ganz kleines Versehen –, aber das
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