Sherlock Holmes - gesammelte Werke
und versuchte, mich in einen Roman zu vertiefen. Die Geschichte war jedoch so flach und unbedeutend im Vergleich zu dem düsteren Geheimnis, das uns beschäftigte, dass meine Gedanken fortwährend von der Dichtung in die Wirklichkeit schweiften, bis ich schließlich das Buch beiseitewarf und mich ganz meinen Betrachtungen über die Ereignisse des heutigen Tages hingab. Angenommen, der unglückliche Jüngling hätte die Wahrheit gesprochen, welches völlig unerwartete, unselige Ereignis, welcher teuflische Umstand konnte eingetreten sein in der kurzen Zeit zwischen seinem Weggehen vom Vater und dem Augenblick, da er durch den Angstschrei zu ihm zurückgerufen wurde? Es musste etwas Schreckliches sein. Aber was? Könnte vielleicht die Art der Verletzung meinem ärztlichen Blick Näheres verraten? Ich klingelte und verlangte das Wochenblatt, welches einen wörtlichen Bericht über das Verhör enthielt. Nach Aussage des Wundarztes war am Kopf das hintere Drittel des linken Scheitelbeins und die linke Hälfte des Hinterhauptbeins durch einen heftigen Schlag mit einer stumpfen Waffe zerschmettert worden. Ich bezeichnete die Stelle an meinem eigenen Kopf. Offenbar musste ein solcher Schlag von rückwärts geführt worden sein. Gewissermaßen war das für den Angeklagten ein entlastender Umstand, denn als man ihn mit dem Vater streiten sah, stand er diesem gegenüber. Ganz stichhaltig war es freilich nicht, denn der Alte konnte sich auch umgedreht haben, ehe der Hieb fiel. Dennoch lohnte es sich vielleicht, Holmes darauf aufmerksam zu machen. Dazu kam die sonderbare Hinweisung des Sterbenden auf eine Ratte. Was mochte das bedeuten? Delirium war es nicht. Ein Mann, der einen plötzlichen Tod erleidet, spricht nicht leicht irre. Nein – wahrscheinlicher ist’s, dass er damit angeben wollte, wie ihn das Schicksal ereilt habe. Aber worauf konnte es sich beziehen? Ich zerbrach mir den Kopf hierüber; – und nun noch das graue Tuch, das der junge McCarthy gesehen haben wollte. Beruhte das nicht auf Täuschung, so musste der Mörder auf der Flucht ein Kleidungsstück, wahrscheinlich den Überzieher, verloren und die Frechheit gehabt haben, umzukehren, um das Vermisste zu holen, in dem Augenblick, wo der Sohn kaum zwölf Schritte entfernt am Boden kniete und ihm den Rücken zuwandte. Welch ein geheimnisvolles Gewebe von Unwahrscheinlichkeiten bot die ganze Geschichte! Lestrades Auffassung wunderte mich nicht, und doch traute ich so fest auf meines Freundes Einsicht, dass ich die Hoffnung nicht aufgab; schien doch jeder neue Nebenumstand ihn in seiner Überzeugung von der Unschuld des jungen Mannes zu bestärken.
Sherlock Holmes kehrte erst spät zurück; er kam allein, denn Lestrade hatte sein Quartier in der Stadt genommen.
»Der Barometer steht noch sehr hoch«, bemerkte er, sich niederlassend. »Es ist wichtig, dass wir den Schauplatz besuchen, ehe es regnet; andererseits ist es aber auch vonnöten, dass sich der Mensch frisch und gestärkt an eine so peinliche Arbeit macht. Von langer Fahrt ermüdet, möchte ich sie nicht unternehmen. Ich habe indessen den jungen McCarthy gesehen.«
»Und was erfuhren Sie von ihm?«
»Nichts.«
»Vermochte er nichts aufzuklären?«
»Gar nichts. Erst neigte ich zu der Annahme, er kenne den Täter und wolle ihn oder sie nur schonen, jetzt aber bin ich überzeugt, er weiß so wenig davon wie die anderen. Er scheint nicht gerade aufgeweckt zu sein, macht aber einen angenehmen und gutherzigen Eindruck.«
»Sein Geschmack aber imponiert mir wenig«, warf ich ein, »wenn er wirklich nicht geneigt sein sollte, ein so reizendes Geschöpf wie Miss Turner zu heiraten.«
»Das hängt freilich mit einer misslichen Geschichte zusammen. Der junge Mensch ist bis über die Ohren in sie verliebt, aber vor zwei Jahren, noch ehe er das junge Mädchen recht kannte, welches fünf Jahre in der Pension war, fiel das Bürschchen (das damals kaum die Kinderschuhe ausgetreten hatte) in die Netze einer Kellnerin in Bristol und heiratete diese vor dem Standesamt. Kein Mensch weiß davon, und nun begreifen Sie, in welcher heillosen Lage der junge Mann steckte. Es geschah aus reiner Verzweiflung, dass er seine Hände gen Himmel erhob, als ihn sein Vater bei ihrer letzten Begegnung drängte, um Miss Turner anzuhalten. Sein Vater – wie ich allgemein hörte, ein harter Mann – würde ihn einfach verstoßen haben, hätte er die Wahrheit erfahren. Der Junge hatte sich die letzten drei Tage bei seiner Frau Kellnerin
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