Sherlock Holmes - gesammelte Werke
in Bristol aufgehalten, und sein Vater wusste nicht, wo er war. Beachte diesen Umstand wohl; er ist wichtig. Die Sache nahm jedoch für den jungen McCarthy einen glücklichen Verlauf; denn kaum hatte die Kellnerin aus der Zeitung vernommen, in welcher misslichen Lage sich ihr Gatte befand und dass er möglicherweise gehenkt würde, so gestand sie ihm, dass sie bereits einen Ehemann in den Bermuda Dockyards habe, ihre Ehe also ungültig sei. Ich glaube, diese angenehme Nachricht hat den jungen Mann für alles Erlittene getröstet.«
»Aber wenn er unschuldig ist, wer hat es dann getan?«
»Ja, wer? Ich möchte Sie nur auf zwei Punkte aufmerksam machen. Erstens hatte der Ermordete eine Verabredung mit jemand unten am Teich, sein Sohn konnte dieser Jemand nicht sein, denn er war abwesend, und der Vater wusste nicht, wann er zurückkehren würde. Zweitens wurde der Ruf ›Cooee‹ aus dem Mund des Ermordeten vernommen, ehe er von der Rückkehr des Sohnes wusste. Das sind die beiden Angelpunkte, um die sich der Fall bewegt. Und nun lassen Sie uns, bitte, von anderen Dingen reden und alles übrige auf morgen verschieben.«
Wie es Holmes vorausgesehen, regnete es nicht, und der Morgen brach klar und wolkenlos an. Lestrade holte uns um neun Uhr mit dem Wagen ab, und wir fuhren zum Pachthof von Hatherley und dem Boscombe-Teich.
»Heute Morgen ist eine ernste Nachricht eingetroffen«, sprach Lestrade, »es heißt, Mr Turner sei so krank, dass man an seinem Durchkommen zweifelt.«
»Wohl ein älterer Mann?«, fragte Holmes.
»Vielleicht ein Sechziger. Der überseeische Aufenthalt hat seine Konstitution zerrüttet, und er kränkelt seit geraumer Zeit. Dieser Unglücksfall hat ihn übel mitgenommen. Er war ein alter Freund McCarthys und, wie mir scheint, sein Wohltäter, denn, wie ich hörte, überließ er ihm Hatherley pachtfrei.«
»Wirklich! Das ist recht interessant!«, sagte Holmes.
»Ja, er hat McCarthy auch sonst in jeder Weise geholfen. In der Umgegend rühmt jeder, was er alles für ihn tat.«
»Wirklich? Kommt es Ihnen nicht etwas sonderbar vor, dass dieser McCarthy, der doch sehr unvermögend war und Turner so viel verdankte, in so zuversichtlicher und bestimmter Weise von einer Verbindung seines Sohnes mit Turners Tochter – der künftigen Gutsherrin – gesprochen hat, als ob dies die einfachste Sache von der Welt wäre. Und dies wird umso befremdlicher, als bekanntlich Turner der Heirat abgeneigt war. Die Tochter gab uns das deutlich zu verstehen. Lässt Sie das nicht auf etwas schließen?«
»Da wären wir also schon glücklich bei den Schlüssen und Folgerungen angelangt«, sagte Lestrade und zwinkerte mir zu. »Ich finde es schon schwer genug, Mr Holmes, die bloßen Tatsachen festzuhalten, ohne ausgedachten Theorien nachzujagen.«
»Sie haben recht«, sagte Holmes spöttisch, »es fällt Ihnen sehr schwer, die Tatsachen zu fassen.«
»Und doch ist mir eine Tatsache klar, die Sie nur schwer festzuhalten vermögen, wie mir scheint«, meinte Lestrade etwas erregt.
»Und das wäre?«
»Dass McCarthy senior seinen Tod von der Hand McCarthy juniors erlitt und dass alle gegenteiligen Annahmen eitel Mondschein sind.«
»Zum Glück ist Mondschein heller als Nebel«, versetzte Holmes lachend, »doch irre ich nicht, so ist hier zur Linken der Pachthof von Hatherley.«
»Ja, allerdings.« – Vor uns lag ein geräumiges hübsch ausgestattetes Wohnhaus, zwei Stockwerke hoch und mit Schiefer gedeckt. Indessen verliehen die herabgelassenen Jalousien und die rauchlosen Kamine dem Gebäude ein totes Aussehen, es war, als laste die begangene Freveltat darauf. Wir klopften an, und auf Holmes’ Nachfrage zeigte uns die Magd die Stiefel, welche ihr Herr am Todestag getragen, sowie ein Paar des Sohnes, wenn auch nicht diejenigen, die er damals angehabt hatte. Nachdem Holmes diese sehr genau nach sieben bis acht Richtungen gemessen hatte, ließ er sich in den Hof führen, von wo aus wir dem gewundenen Pfad zum Teich von Boscombe folgten.
Sherlock Holmes war geradezu verwandelt, wenn er sich, wie eben jetzt, auf frischer Fährte befand. Wer nur den ruhigen Denker und Logiker aus der Baker Street kannte, hätte ihn hier für einen anderen Menschen gehalten. Sein Gesicht war gerötet und schien dunkler. Seine Augenbrauen liefen in zwei scharfe, schwarze Linien zusammen, unter welchen die Augen mit stählernem Glanz hervorleuchteten. Sein Blick war zur Erde gerichtet, seine Schultern nach vorn gebeugt, die Lippen
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