Sherlock Holmes - gesammelte Werke
England arbeiten, mit genauer Adresse. Sherlock.
»Solch eine Liste wäre uns von Vorteil, Watson«, sagte Holmes, als wir in den Zug nach Woolwich stiegen. »Meinem Bruder sind wir Dank schuldig, dass er uns mit einer Staatsangelegenheit bekannt gemacht hat, die ein ganz hervorragend interessanter Kriminalfall zu sein scheint.«
Sein eifriges Gesicht zeigte noch immer die angespannte lebhafte Energie, die mir offenbarte, dass irgendein neuer und bedeutungsvoller Umstand eine Kette anregender Gedanken in ihm ausgelöst hatte. Schau einen Fuchshund an, wie er mit gesenktem Schweif und hängenden Ohren im Rinnstein herumlungert, und vergleiche ihn mit demselben Hund, wenn er mit glitzernden Augen und straffesten Muskeln hinter dem Fuchs her ist – so war die Veränderung in Holmes seit dem Morgen. Er war völlig verschieden von dem schlappen, indolenten Mann im mausgrauen Schlafrock, der noch wenige Stunden vorher so verdrossen in dem von Nebel verhüllten Zimmer herumgelaufen war.
»Hier ist Material. Hier sind Aussichten«, sagte er. »Mir saß noch der Nebel im Kopf, dass ich diese Möglichkeiten nicht früher erblickte.«
»Mir sind sie auch jetzt noch dunkel.«
»Das Ende ist mir ebenfalls dunkel, aber ich habe da einen Gedanken, der uns weit bis ans Ende führen kann. Cadogan West hat seinen Tod ganz woanders gefunden, und seine Leiche war auf dem Dach eines Wagens.«
»Auf dem Dach?«
»Sonderbar, was? Aber lass die Tatsachen sprechen: Ist es ein Zufall, dass die Leiche gerade da gefunden wurde, wo der Zug in der Kurve schleudert und in den Weichen hin- und hergeworfen wird? Ist nicht das der Ort, wo ein Gegenstand vom Dach eines Wagens herunterfallen muss? Entweder der Leichnam ist vom Dach gefallen, oder es ist eine ganz merkwürdige Zufälligkeit. Aber nun betrachte die Frage der Blutspuren, die nicht vorhanden sind. Sie können natürlich nicht da sein, wenn der Tote sich vorher schon anderswo ausgeblutet hat. Jede Tatsache ist für sich bedeutungsvoll. Zusammen haben sie eine durchschlagende Beweiskraft.«
»Und die Fahrkarte, Holmes!«, rief ich.
»Ja, das ist auch wichtig. Wir konnten uns das Fehlen der Karte nicht erklären. Aber meine Annahme erklärt sie ganz zwanglos: Der Tote war gar kein Passagier, hatte also auch keine Fahrkarte. Es passt alles zusammen, Watson.«
»Aber angenommen, es wäre alles so, sind wir doch noch ebenso weit wie früher von der Lösung des Rätsels entfernt: Wie hat West seinen Tod gefunden? Das Rätsel wird in der Tat nicht leichter, sondern immer schwieriger.«
»Vielleicht«, sagte Holmes gedankenvoll, »vielleicht.« Er verfiel in eine stille Träumerei, die ihn gefangen hielt, bis der langsame Zug endlich in Woolwich Station einfuhr. Hier rief er eine Droschke heran und zog Mycrofts Notizen aus der Tasche.
»Wir haben eine ganz nette Runde von Nachmittagsbesuchen zu machen«, sagte er. »Ich denke, Sir James Walter gebührt an erster Stelle die Ehre.«
Das Haus des berühmten Beamten war eine schöne Villa, umgeben von Rasen und Park, die sich auf einer Seite bis an das Themse-Ufer hinunterstreckten. Als wir ankamen, begann der Nebel sich zu verziehen, und ein dünner wässeriger Sonnenschein brach hervor. Ein Diener empfing uns.
»Sir James«, sagte er mit feierlicher Miene. »Ich bitte sehr, Sir James ist heute früh gestorben.«
»Um Himmels willen!«, rief Holmes in entsetztem Erstaunen. »Woran ist er gestorben?«
»Vielleicht darf ich die Herrschaften bitten, einzutreten? Der Bruder Sir James’, Herr Oberst Valentine, ist zugegen.«
»Jawohl, ich möchte den Herrn Oberst sprechen.«
Wir wurden in ein dämmeriges Zimmer geführt, wo uns gleich darauf ein sehr großer, schön gewachsener Mann von etwa fünfzig Jahren, der jüngere Bruder des Marinefachmannes, begrüßte. Seine wilden Augen, die fleckigen Backen und das verwirrte Haar verrieten uns deutlich, wie schwer der plötzliche Schlag die Familie getroffen hatte. Er musste mit den Worten ringen, als er uns davon berichtete.
»Es war dieser grässliche Skandal«, sagte er. »Mein Bruder, Sir James, war ein Mann von höchstem Ehrgefühl, und er konnte solch eine Geschichte einfach nicht überleben. Sie hat ihm das Herz gebrochen. Er war stets so stolz auf die tadellose Leistungsfähigkeit seiner Abteilung, und dieser Hochverrat hat ihn zu schwer getroffen.«
»Wir hatten gehofft, er würde uns einige Angaben machen können, die es uns ermöglicht hätten, die geheimnisvolle Angelegenheit
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