Sherlock Holmes - gesammelte Werke
aufzuklären.«
»Ich versichere Sie, die ganze Sache war für ihn ein vollständiges Rätsel, wie für Sie und uns alle. Alles, was er zur Aufklärung beitragen konnte, hat er bereits der Polizei gegenüber getan. Natürlich, auch er zweifelte nicht daran, dass Cadogan West der Schuldige war. Aber alles Übrige war ihm unfassbar und unbegreiflich.«
»Auch Sie selbst können kein neues Licht auf den Fall werfen?«
»Ich selbst weiß nichts außer dem, was ich gelesen und gehört habe. Ich möchte nicht für unhöflich gehalten werden, aber Sie werden es mir glauben, Mr Holmes, dass wir augenblicklich sehr der Ruhe bedürfen, und ich muss Sie daher bitten, diese Unterredung bald zu einem Ende zu bringen.«
»Das ist wahrhaftig eine sehr unerwartete Entwicklung«, sagte mein Freund, als wir wieder im Wagen saßen.
»Ich muss nicht fragen, ob dieser Tod seine natürlichen Ursachen hat, oder ob der arme alte Beamte sich selbst das Leben nahm! Wenn das Letztere der Fall sein sollte, dürfen wir es dann als ein Zeichen von Selbstvorwurf wegen versäumter oder vernachlässigter Pflicht auffassen? Wir müssen diese Frage der Zukunft überlassen. Jetzt wollen wir die Cadogan Wests aufsuchen.«
Ein kleines, aber gut aussehendes Haus in einem Außenviertel der Stadt beherbergte die niedergebeugte Mutter. Die alte Dame war zu sehr von ihrem Schmerz erfüllt, als dass sie uns irgendwie hätte von Nutzen sein können; aber ihr zur Seite fanden wir eine bleiche junge Dame, die sich selbst als Miss Violet Westbury, die Verlobte des Toten, vorstellte. Sie betonte, dass sie in der verhängnisvollen Nacht ihn zuletzt gesehen hätte.
»Ich kann es nicht erklären, Mr Holmes«, sagte sie. »Ich habe seit dem schrecklichen Ereignis kein Auge geschlossen, Tag und Nacht muss ich denken, denken und denken, was das in Wahrheit bedeuten soll. Arthur war der anständigste, ritterlichste, patriotischste Mann auf Erden. Er würde sich lieber die rechte Hand abgehackt haben, ehe er ein Staatsgeheimnis, das seiner Obhut anvertraut war, verkauft hätte. Es ist einfach absurd, unmöglich, es ist verrückt, für jeden, der ihn gekannt hat.«
»Aber die Tatsachen, Miss Westbury?«
»Ja, ja, ich gebe zu, sie sprechen gegen ihn, und ich kann sie nicht erklären.«
»War er in Geldverlegenheit?«
»Nein, seine Bedürfnisse waren sehr bescheiden, und sein Gehalt reichlich. Er hatte sich einige hundert Pfund erspart, und wir wollten zu Neujahr heiraten.«
»Keinerlei Anzeichen seelischer Erregung? Bitte, Miss Westbury, seien Sie ganz offen mit uns.«
Der rasche Blick meines Freundes hatte sogleich eine Veränderung in ihrer Haltung festgestellt. Sie errötete und zögerte mit der Antwort.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Ich hatte das Gefühl, als mache ihm etwas Sorge.«
»Seit langer Zeit?«
»Erst seit der letzten Woche ungefähr. Er schien mir oft geistesabwesend und bedrückt. Einmal drang ich deswegen in ihn. Er gab zu, es sei da etwas, und das hinge mit seinem Dienst zusammen. ›Es ist viel zu ernst, als dass ich darüber sprechen könnte, sogar dir gegenüber‹, sagte er. Ich konnte nichts weiter aus ihm herausbekommen.«
Holmes machte ein ernstes Gesicht.
»Bitte fahren Sie fort, Miss Westbury. Selbst wenn es ihn bloßzustellen scheint, bitte verschweigen Sie uns nichts. Wir können noch nicht übersehen, zu was es am Ende führen wird.«
»Ich kann Ihnen wirklich nichts mehr sagen. Ein- oder zweimal schien es mir so, als wolle er mir etwas anvertrauen. Er sprach eines Abends von dem Unterseebootsgeheimnis, und ich erinnere mich, dass er sagte, fremde Spione würden ohne Zweifel große Summen dafür bezahlen.«
Das Gesicht meines Freundes wurde noch ernster.
»Noch etwas?«
»Er sagte, wir wären etwas nachlässig in solchen Dingen, und es würde für einen Verräter leicht sein, sich die Zeichnungen zu beschaffen.«
»War das erst kürzlich, dass er solche Bemerkungen machte?«
»Jawohl, erst ganz in letzter Zeit.«
»Nun erzählen Sie uns bitte von dem letzten Abend.«
»Wir waren im Begriff, ins Theater zu gehen. Der Nebel war so dick, dass eine Droschke nutzlos war. Wir gingen daher zu Fuß, und unser Weg führte uns dicht an seinem Büro vorüber. Plötzlich lief er in den Nebel hinein von mir weg.«
»Ohne ein Wort zu sagen?«
»Er tat einen Ausruf, das war alles. Ich wartete, aber er kehrte nicht zurück. Dann ging ich nach Hause. Am anderen Morgen, nach Beginn der Bürostunden, kam man zu mir und verhörte
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