Sherlock Holmes - gesammelte Werke
wenn er ebenso gut und viel gefahrloser seinen Zweck mit Kopien erreicht haben würde.«
»Das ist freilich eigentümlich – und doch hat er es so gemacht.«
»Jede neue Feststellung in diesem Fall enthüllt etwas Unerklärliches. Es fehlen drei Zeichnungen; es sind gerade die allerwichtigsten, wie mir gesagt wurde.«
»Jawohl, das stimmt.«
»Kann jemand, wenn er diese drei Zeichnungen besitzt, aber ohne die sieben anderen, nach Ihrer Ansicht ein Bruce-Partington-Unterseeboot bauen?«
»In diesem Sinne habe ich zunächst an die Admiralität berichtet, aber heute habe ich mir die Pläne noch einmal angesehen, und es sind mir da verschiedene Zweifel gekommen. Die doppelte Steuerung mit den automatisch wirkenden Nuten – das ist auf einem der Pläne, die wir wiederhaben. Solange einer diese wesentlichen Teile nicht selbst erfindet, könnte er aufgrund der übrigen Pläne das Unterseeboot nicht bauen. Aber natürlich, das ist eine Schwierigkeit, die zu überwinden wäre.«
»Aber die drei fehlenden Zeichnungen sind doch die allerwichtigsten?«
»Zweifelsohne!«
»Ich denke, mit Ihrer gütigen Erlaubnis werde ich mir jetzt einmal die Örtlichkeiten hier näher ansehen. Ich habe im Augenblick keine weiteren Fragen an Sie zu stellen.« Holmes prüfte das Schloss des Stahlschranks, die Tür zum Büro und die eisernen Läden am Fenster. Aber erst draußen auf dem Rasen wurde sein Interesse lebendig. Da stand ein Lorbeerbusch in der Nähe des Fensters und verschiedene Zweige waren geknickt oder abgebrochen. Er prüfte sie sorgfältig mit seiner Lupe und dann einige kaum wahrnehmbare Spuren auf der Erde. Schließlich bat er Mr Johnson, die eisernen Läden zu schließen, und Holmes machte mich darauf aufmerksam, dass sie in der Mitte nicht ganz zusammenstießen und es also möglich war, von außen zu beobachten, was in dem Büro vorging.
»Die drei Tage Verzug haben die geringen Spuren fast wertlos gemacht. Sie können etwas bedeuten oder auch nicht. Nun, Watson, ich glaube, Woolwich hat uns nichts mehr zu sagen. Wir haben nur eine dürftige Ernte hereingebracht. Wir wollen es jetzt in London versuchen, dort erreichen wir vielleicht mehr.«
Und doch bereicherten wir unsere Ernte noch um einen Scheffel, ehe wir in den Zug stiegen. Der Angestellte im Schalterraum versicherte uns aufs Bestimmteste, er hätte Cadogan West – den er vom Sehen kannte – am Montagabend gesehen, und zwar sei er mit dem Zug acht Uhr fünfzehn nach London Bridge gefahren. Er war allein und löste eine einfache Karte dritter Klasse. Dem Angestellten war damals das aufgeregte und nervöse Wesen Wests aufgefallen. Seine Hand zitterte so, dass er kaum die Münzen fassen konnte, die er herausbekam, und der Angestellte half ihm, sie in seine Geldtasche zu stecken, genau wie einer Dame mit Handschuhen. Mit dem Fahrplan stellten wir fest, dass der Zug um acht Uhr fünfzehn für West die erste Möglichkeit war, nachdem er Miss Westbury um sieben Uhr dreißig so plötzlich verlassen hatte.
Nach einer halben Stunde stillen Nachdenkens sagte Holmes: »Wir wollen alles einmal rekonstruieren, Watson. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir unter allen unseren gemeinsam erlebten Fällen je einen so schwierigen gehabt hätten. Jeder Schritt nach vorwärts, den wir tun, wirft uns eigentlich einen Schritt wieder zurück. Und doch scheint es mir, wir hätten schon recht Wertvolles erreicht.
Unsere Nachforschungen in Woolwich haben in der Hauptsache Cadogan West bloßgestellt; aber die Spuren bei dem Fenster gestatten eine andere Auffassung. Wir wollen zum Beispiel annehmen, ein Spionageagent hat sich an ihn herangemacht. Das kann ja unter solchen Vorkehrungen geschehen sein, dass es ihm unmöglich wurde, darüber zu sprechen, und konnte doch seine Gedanken in der Richtung beeinflusst haben, wie das seine Bemerkung zu seiner Verlobten andeutet. Schön! Wir wollen weiter annehmen, dass, als er mit der jungen Dame zum Theater ging, er plötzlich im Nebel denselben Agenten erblickte, wie er in Richtung Büro eilte. West war ein impulsiver Mann, rasch in seinen Entschlüssen. Seiner Pflicht ordnete er alles andere unter. Er folgte dem Agenten, kam vor das Fenster, sah, wie die Dokumente entwendet wurden und verfolgte den Dieb. Mit dieser Theorie kommen wir über den Einwand hinweg, dass niemand die Originale nehmen würde, der imstande war, sich Kopien anzufertigen. Der Agent konnte das nicht, er musste die Originale selbst haben. So weit hält alles
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