Sherlock Holmes - gesammelte Werke
zusammen.«
»Was ist nun der nächste Schritt?«
»Da geraten wir in Schwierigkeiten. Die natürliche Annahme wäre, dass unter solchen Umständen der junge Cadogan West den Schurken ergreifen und Alarm schlagen würde. Warum hat er das nicht getan? Könnte einer seiner Vorgesetzten die Papiere entwendet haben? Nur so kann ich mir Wests Verhalten erklären. Oder war ihm der Vorgesetzte im Nebel entschlüpft, und West eilte sofort nach London, um ihm in seiner Wohnung zuvorzukommen, vorausgesetzt, dass ihm diese bekannt war? Jedenfalls muss ihn eine innere Stimme sehr dringend angetrieben haben, da er seine Verlobte im Nebel stehen ließ und er keinen Versuch machte, ihr sein Verhalten zu erklären. Hier verliert sich unsere Spur, und eine tiefe Kluft tut sich auf zwischen diesen beiden Annahmen und dem Leichnam Wests mit sieben Zeichnungen in der Tasche, den wir auf dem Dach eines Untergrundbahnzuges liegend annehmen müssen. Nach meinem Instinkt muss ich die Geschichte jetzt vom anderen Ende her anfassen. Wenn Mycroft uns die verlangten Adressen geschickt hat, werden wir in der Lage sein, unsern Mann ausfindig zu machen und zwei Spuren statt nur einer zu verfolgen.«
In der Baker Street wartete ein Bote auf uns mit der Adressenliste. Holmes überflog sie und warf sie mir über den Tisch zu. Ich las:
Es gibt da zahlreiches kleines Gelichter, aber nur wenige, die eine so große Sache fingern können. Die Einzigen, die in Betracht kommen, sind Adolf Meyer, Great George Street Nr. 13, Westminster; Louis La Rothière, Campden Mansions, Notting Hill; und Hugo Oberstein, Caulfield Estates Nr. 13, Kensington. Der Letztere war nach unserer Kenntnis am Montag in der Stadt; inzwischen bekamen wir Meldung, dass er London verlassen hat. – Sehr erfreut, dass Du einen Lichtschimmer siehst. Das Kabinett erwartet Deinen abschließenden Bericht in der größten Unruhe. Dringende Vorstellungen sind uns von der höchsten Stelle zugegangen. Alle Sicherheitsbehörden stehen Dir zur Verfügung, wenn Du sie benötigen solltest. – Mycroft.
»Ich fürchte«, sagte Holmes lächelnd, »dass der Königin sämtliche Pferde und der Königin sämtliche Soldaten uns in dieser Sache nichts nützen könnten.«
Er hatte seine große Karte von London auf dem Tisch ausgebreitet und beugte sich eifrig darüber. »Aha, gut«, sagte er jetzt mit einem Ausdruck der Befriedigung, »endlich zieht sich die Sache ein wenig günstig für uns zusammen. Ja, Watson, ich bin jetzt ehrlich davon überzeugt, dass wir bald ans Ziel kommen werden.«
Er schlug mich in einem plötzlichen Fröhlichkeitsausbruch auf die Schulter. »Ich gehe jetzt aus. Es ist nur eine Erkundung. Ich werde nichts Ernsthaftes unternehmen, ohne meinen alten Kriminalkameraden und Biografen zur Seite zu haben. Bitte warten Sie hier, wahrscheinlich werde ich in ein bis zwei Stunden zurück sein. Wenn Ihnen die Zeit lang wird, dann nehmen Sie Tinte, tauchen Sie Ihre berühmte Feder ein und fangen Sie an, die Geschichte zu Papier zu bringen, wie Sherlock Holmes und sein Freund Doktor Watson das englische Reich gerettet haben.«
Ich fügte mich, von Holmes’ guter Laune angesteckt, denn ich wusste gut, dass er nicht ohne die besten Gründe sich so weit von seiner üblichen reservierten und verschlossenen Art entfernen würde. Ich wartete den ganzen langen Novemberabend und konnte meine Ungeduld kaum beherrschen. Endlich, kurz nach neun Uhr, erschien ein Bote mit einem Billett:
Esse bei Goldino, Gloucester Road, Kensington, zu Nacht. Bitte kommen Sie sofort. Es gibt Hummer. Bringen Sie ein Stemmeisen mit, eine Blendlaterne, einen Revolver und einen Schraubenzieher. S. H.
Das war eine nette Ausrüstung, die ein ehrbarer Bürger durch die düsteren nebelverhüllten Straßen zu tragen hatte. Ich steckte alles in die Taschen meines Mantels und fuhr direkt zum angegebenen Restaurant. Dort saß mein Freund an einem kleinen runden Tisch nahe der Tür dieses beliebten italienischen Hauses. Wir aßen zusammen, und bei Kaffee und Curaçao fragte mich mein Freund:
»Haben Sie alles mitgebracht?«
»Ich habe alles in meinem Überzieher.«
»Ausgezeichnet. Ich will Ihnen kurz sagen, was ich inzwischen getan habe und was uns jetzt zu tun noch übrig bleibt. Vor allem, Watson, der Leichnam des jungen Mannes ist auf das Dach des Wagens gelegt worden. Das war mir schon in dem Augenblick klar geworden, wo ich zu der Überzeugung kam, dass er vom Dach und nicht vom Innern eines Wagens heraus auf den
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