Sherlock Holmes - gesammelte Werke
einzustellen, und erkundigte mich nach der Dame, der mein Besuch galt. Ich fand ohne Mühe ihre Wohnung, die mitten im Ort lag und gut eingerichtet war. Ein Dienstmädchen ließ mich ohne weitere Förmlichkeiten in das Wohnzimmer eintreten, und eine Dame, die vor einer Remington-Schreibmaschine saß, sprang auf und bewillkommnete mich mit einem freundlichen Lächeln. Dieser Ausdruck von Freundlichkeit verschwand indessen, als sie sah, dass ich ein Unbekannter war; sie setzte sich wieder hin und fragte mich nach dem Anlass meines Besuches.
Auf den ersten Blick machte Mrs Lyons den Eindruck einer außerordentlichen Schönheit. Ihre Haare waren, wie die Augen, von dunkelbrauner Farbe, ihre Wangen waren zwar etwas sommersprossig, aber es lag auf ihnen der köstliche Flaum der Brünetten, jener zartrote Hauch, der sich im Herzen der gelben Rose birgt. Bewunderung war, ich wiederhole es, das erste Gefühl, das sie einflößte; dann aber kam sofort die Kritik. Es lag in ihrem Gesicht ein eigentümlicher, nicht anziehender Ausdruck, vielleicht eine gewisse Härte des Blickes, eine Schlaffheit der Lippen – genug, die Vollkommenheit ihrer Schönheit wurde dadurch beeinträchtigt. Doch diese Gedanken machte ich mir natürlich erst hinterher. In jenem Augenblick hatte ich nur das Gefühl, mich einer sehr hübschen Frau gegenüber zu befinden, die mich fragte, warum ich sie besuchte. Diese Frage brachte mir so recht zum Bewusstsein, wie delikat meine Aufgabe war.
»Ich habe das Vergnügen«, begann ich, »Ihren Herrn Vater zu kennen.«
Dies war nun freilich eine recht linkische Eröffnung des Gespräches, und die Dame gab es mir denn auch sofort zu verstehen.
»Zwischen meinem Vater und mir«, sagte sie, »bestehen keine Beziehungen. Ich bin ihm nichts schuldig, und seine Freunde sind nicht die meinigen. Wäre nicht der verstorbene Sir Charles Baskerville gewesen und hätte ich nicht noch einige andere gütige Herzen gefunden, hätte ich hungern können – mein Vater hätte sich nicht darum gekümmert!«
»Der Anlass meines Besuches bei Ihnen betrifft gerade den verstorbenen Sir Charles Baskerville.«
Die Dame wurde rot, sodass die Sommersprossen auf ihren Wangen deutlich hervortraten.
»Was wünschen Sie von mir in Betreff dieses Herrn zu hören?«, fragte sie, und ihre Finger spielten nervös auf den Tasten der Schreibmaschine.
»Sie kannten ihn, nicht wahr?«
»Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich seiner Freundlichkeit großen Dank schuldig. Wenn ich imstande bin, mein Brot selber zu verdienen, habe ich das in hohem Maße der Teilnahme zu verdanken, die ihm meine unglückliche Lage einflößte.«
»Standen Sie mit ihm in brieflichem Verkehr?«
Sie warf einen raschen Blick auf mich, und in ihren nussbraunen Augen lag ein ärgerlicher Schein.
»Was bezwecken Sie mit diesen Fragen?«, rief sie dann scharf.
»Ich bezwecke damit einen öffentlichen Skandal zu vermeiden. Es ist besser, ich richte diese Frage hier an Sie als an einem anderen Ort, wo die Sache vielleicht eine Wendung nehmen möchte, gegen die wir nichts machen könnten.«
Sie schwieg und ihr Gesicht war sehr blass. Schließlich blickte sie auf, und in ihrer Haltung sprach sich ein gewisser leichtfertiger und herausfordernder Trotz aus.
»Gut, ich will antworten!«, sagte sie. »Fragen Sie!«
»Standen Sie mit Sir Charles in Briefwechsel?«
»Gewiss; ich schrieb ihm ein- oder zweimal, um ihm für sein Zartgefühl und seinen Edelmut zu danken.«
»Wissen Sie die Daten dieser Briefe?«
»Nein.«
»Sind Sie jemals persönlich mit ihm zusammengetroffen?«
»Ja, ein- oder zweimal hier in Coombe Tracey. Er lebte sehr zurückgezogen, und wenn er Gutes tat, liebte er, dass es im Verborgenen geschah.«
»Aber wenn Sie ihm so selten schrieben und ihn so selten sprachen, wie kommt es dann, dass er mit Ihren Angelegenheiten so gut Bescheid wusste, um Ihnen helfen zu können, wie er es doch tat, nach dem, was Sie sagten?«
Auf diesen Einwurf war sie sofort mit einer Erklärung bei der Hand.
»Mehrere Herren kannten meine traurige Geschichte und taten sich zusammen, um mir zu helfen. Einer von ihnen war Mr Stapleton, ein Nachbar und intimer Freund von Sir Charles. Er war außerordentlich freundlich und durch ihn wurde Sir Charles mit dem Stand meiner Angelegenheiten genauer bekannt.«
Ich wusste bereits, dass Sir Charles Baskerville sich bei verschiedenen Gelegenheiten Stapletons als seines Almoseniers bedient hatte; die Angabe der Dame trug daher den
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