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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schüler
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größeren Bequemlichkeit halber ließ er sich deshalb einen Ohrensessel nebst Fußbank auf sein Zimmer bringen. Er mummelte sich in eine karierte Decke ein und konnte sich – bis auf den fehlenden Kamin und den von Miss Hudson gebrühten Tee – ganz wie zu Hause fühlen. Allerdings bezweifelte ich stark, dass diesmal seine obligatorischen drei Pfeifen ausreichen würden, um das Colonel-Moran-Problem auch nur annähernd zu lösen. Es gab viel zu viele lose Enden.
    Ich unterließ es von vorneherein, meinen Geist unnötig mit dem Fixstern-Problem, britischen Banditen im Allgemeinen und Professor Moriarty im Besonderen zu belasten. Ich taugte sicherlich als Stichwortgeber für meinen Freund Holmes und verfügte über einen gesunden Menschenverstand. Aber keinesfalls war ich ein kühner Vordenker oder gar ein intuitiver Ermittler. Ich gebe es ehrlich zu: Manchmal sah ich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich war mir dieser Schwäche durchaus bewusst. Deshalb lagen einige freie Stunden vor mir. Als Folge der dramatischen Ereignisse der letzten zwanzig Stunden verspürte ich freilich keine Lust mehr, mutterseelenalleindas Ziel unserer Reise – nämlich das monumentale Völkerschlachtdenkmal – zu besichtigen. Die furchtbaren Erlebnisse auf dem Bahnhof und in Polizeigewahrsam hatten mir die Freuden an touristischen Erlebnissen vergällt.
    Aber so ist das nun mal im Leben. Was mitunter die Triebfeder und der Ansporn für das Erdulden mancherlei schwerer Entbehrungen gewesen sein mag, wird häufig im Laufe der Ereignisse ganz nichtig und klein. Beispielsweise hatte ich in England, nachdem ich infolge meiner Kriegsverletzungen aus dem Fünften Regiment der Northumberland-Füsiliere entlassen worden war, als Mediziner nicht recht Fuß fassen können. Da sich die Lage partout nicht bessern wollte, war ich kurzentschlossen im Januar 1884 nach Amerika ausgewandert, um mir in San Francisco eine Existenz als Arzt aufzubauen. Der Ort erschien mir günstig gewählt zu sein, denn es handelte sich um die größte und wichtigste Handels-und Seehafenstadt des Staates Kalifornien. Die häufigen Erdbeben schreckten mich nicht ab. Ich war mit meinen zweiunddreißig Jahren immer noch ein flotter Bursche. Ich hatte die Hölle des Krieges und eine lebensbedrohliche Typhuserkrankung überstanden. Deshalb hielt ich mich für unsterblich, so wie es die meisten jungen Leute tun.
    Mein kühner Plan gelang. In wenigen Wochen stampfte ich in der quirligen Market Street, der Hauptverkehrsader von Frisco, eine florierende medizinische Praxis aus dem Boden. Dann kam es, wie es kommen musste. Ich verliebte mich in eine meiner Patientinnen – ein reizendes Ding von großer Herzensgüte – und begann, um sie zu werben. Miss Constance Adams, so hieß die junge Dame, ließ mich lange Zeit im Ungewissen. Am Ende, kurz bevor ich aufgeben wollte, erhörte sie mich dann doch noch. Aber sie musste einen hohen Preis dafür bezahlen. Ganz allein meinetwegen gerietsie in Streit mit ihrer britisch-feindlich eingestellten Hicksiten-Verwandtschaft. [ 1 ] Ihr Vater, der sich offiziell als ein Verfechter der Religionsfreiheit gebärdete, verbot mir in unchristlicher Manier das Haus. Constance litt schwer darunter. Aber sie blieb ihrem Entschluss treu. Die Folge davon war ein völliger Bruch mit ihrer Familie. Eine Hochzeit in San Francisco kam nun nicht mehr infrage. Die kirchliche Trauung sollte deshalb in Großbritannien sein. Eine Überfahrt dauerte damals mehrere Wochen. Solange konnte ich meine Arztpraxis nicht alleine lassen. Mir blieb keine andere Wahl. Ich musste sie weit unter Wert abgeben. Am 1. November 1886 heiratete ich Constance in London. Ich übernahm eine Ordination in Kensington. Das Kapitel Amerika war für mich damit abgeschlossen.
    Es hatte sich um einen Wink des Schicksals gehandelt: Am 18. April 1906 wurde San Francisco zuvörderst durch ein furchtbares Erdbeben und nachfolgend durch eine schreckliche Brandkatastrophe fast völlig zerstört. Die gesamte Market Street (und damit auch meine ehemaligen Sprechstundenräume), das etliche Quadratmeilen große Geschäftszentrum im Nordosten der Stadt, das Ausländerviertel China Town sowie das vornehme Wohngebiet Nob Hill versanken vollständig in Schutt und Asche. Es gab Tausende Tote.
    Mister Adams, mein bornierter Schwiegervater, hatte mir ungewollt das Leben gerettet, indem er mich und seine Tochter außer Landes jagte. Ohne diesen Starrsinn wäre ich nie von der Goldküste weggegangen. Aber ich

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