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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schüler
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muss genauestens Buch über seine Produktion führen. Er ist anzeigepflichtig und unterliegt der Steueraufsicht. Daraus folgt der nächste Schritt: Kein Händler darf eine Zigarettenschachtel ohne Steuerbanderole verkaufen. Auf Verstöße dagegen stehen hohe Strafen.«
    »Ich verstehe«, murmelte Holmes. »Steuern sind legaler Raub und ziehen illegale Räuber an.«
    »Ganz genau. Hier tut sich ein gigantischer Markt für Betrüger auf. Sie zweigen einen Teil der Produktion ab, bekleben die Schachteln mit gefälschten Steuerbanderolen, vertreiben die Zigaretten über ihr eigenes Vertriebsnetz und erzielen auf diese Weise hohe Gewinne.«
    Holmes nickte zustimmend. »Das wäre ein Bubenstück ganz im Sinne des verstorbenen Herrn Professors. Gibt es zu diesem Thema konkrete polizeiliche Erkenntnisse, die uns weiterhelfen könnten?«
    »Ich habe mich mit diesem Thema noch nie im Detail befassen müssen. Freilich dürfte es kein Problem darstellen, von meinen Dresdener Kollegen ein Avis anzufordern.«
    Holmes nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarre, bevor er sie tief im Aschenbecher versenkte. »Das wäre eine große Hilfe. Allerdings dürfen Sie das nur für uns tun, sofern Sie keine Unannehmlichkeiten zu erwarten haben.«
    Belzig lächelte. »Keineswegs. Längst nicht alle deutschen Polizisten sind solche Nieten wie der Erste Kriminalkommissar Baron Erwin von Tesching-Brodwin, den kennenzulernenSie ja bereits das zweifelhafte Vergnügen hatten. Speziell in der königlichen Polizeidirektion der Hauptstadt gibt es einige kluge Köpfe, die über ihren Tellerrand hinauszuschauen vermögen und an dem Austausch von Informationen interessiert sind. Schließlich machen die Verbrecher ja auch nicht an den Stadt-oder Landesgrenzen halt. Die Amerikaner sind da schon viel weiter als wir. Sie haben, wie Sie sicherlich wissen, im Jahr 1908 eine nationale Ermittlungsbehörde unter dem Namen
Bureau of Investigation
[ 3 ] gegründet.«
    »Bis wann können Sie uns die Informationen beschaffen?«
    »Morgen früh werde ich bei Dienstbeginn eine entsprechende Depesche absetzen. Die Akte würde dann wahrscheinlich mit der Nachmittagspost bei mir im Polizeiamt eintreffen. Ich kann Ihnen das Dossier voraussichtlich schon morgen Abend ins Hotel bringen.«
    »Vortrefflich! Seien Sie bereits jetzt herzlich bedankt! Nun noch eins zum Abschluss, dann wollen wir über andere Dinge plaudern: Ich möchte den morgigen Tag gern sinnvoll nutzen. An welchem Ort in Leipzig kann ich einen kompletten Jahrgang vom
Königlich Sächsischen Anzeiger
einsehen?«
    »Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig unterhält in seinem Haus eine Vereinsbibliothek, die sich als ein Archiv des deutschsprachigen Schrifttums versteht. Dort wird der
Königlich Sächsische Anzeiger
ganz gewiss vorhanden sein.«
    Damit war dieses Gesprächsthema beendet. Wir streiften kurz die politische Großwetterlage, sprachen über die jüngste Schiffskatastrophe, bei der dank der drahtlosen Telegrafie ein noch größeres Unglück verhindert werden konnte [ 4 ] , und gingen zum Schluss auf das schwere Grubenunglück in Wales ein, bei dem am 9. Oktober nach einer Methangasexplosion 439 Bergleute ums Leben gekommen waren.
    *
    Gleich nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg. Von unserem Hotel aus waren es nur ein paar Schritte bis zum Haus des Börsenvereins, einem riesigen Gebäude mit Rundfenstern, verschnörkelten Giebeln und allerlei Erkern. Das mochte ich an Leipzig ganz besonders: Alle wichtigen Punkte im Zentrum ließen sich ganz bequem zu Fuß erreichen.
    Wie es zu erwarten gewesen war, stand die Vereinsbibliothek der Öffentlichkeit nur in einem eng begrenzten Umfang zur Verfügung. Wer nicht zu den Mitgliedern zählte, bedurfte einer schriftlichen Genehmigung des Vorstands, die eine Woche lang im Voraus beantragt werden musste. Doch dem leitenden Bibliothekar, einem verhutzelten Männchen namens Bernhard von Clarin, waren die Namen von Sherlock Holmes und seinem Chronisten Dr. John Watson durchaus ein Begriff. Er hieß uns herzlich willkommen und räumte uns in der Lesehalle zwei gegenüberliegende Tische frei. Ein Mitarbeiter im grauen Kittel schaffte dann im Handumdrehen den kompletten Jahrgang 1912 und alle bislang im Jahr 1913 erschienenen Ausgaben des
Königlich Sächsischen Anzeigers
heran.
    Holmes machte sich sofort an die Arbeit. Er hatte sich irgendein System ausgeknobelt, mit dessen Hilfe er die Zeitungsausgaben im Eilzugtempo durchsehen konnte. Ganz

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