Sherlock Holmes in Dresden
Kreosot [ 1 ] und andere verwandte Mittel dienen lediglich dazu, die Nahrungsaufnahme anzuregen, auf diese Weise den Ernährungszustand zu verbessern und so letztendlich den Heilungsprozess günstig zu beeinflussen. Alle Versuche, zimtsaures Natron in die Blutgefäße einzuspritzen, um auf diese Weise die Genesung zu befördern, sind gescheitert. Ich kann mir deshalb beim besten Willen nicht vorstellen, dass Mesmerismus und Ätherisches Sehen helfen könnten.«
»Für die Tuberkolose trifft das sicherlich zu«, antwortete Dr. Hasse. »Die Sterblichkeitsquote nach Ausbruch der Krankheit liegt innerhalb der ersten fünf Jahre unverändert bei 75 Prozent. Doch der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Es gibt viele andere Leiden, bei denen die Kräfte der Selbstheilungeine alles entscheidende Rolle spielen. Dr. Alexander von Schleuben-Aumont verfügt offenbar über eine hypnotische Gabe, diese Selbstheilungsprozesse in Gang zu setzen.«
»Daran kann ich auf Anhieb nichts Negatives erkennen«, wandte Holmes ein. »Es ist doch völlig gleichgültig, ob dieser positive Effekt durch Autosuggestion oder durch ein Induktorium [ 2 ] hervorgerufen wird. Auf das Ergebnis kommt es an.«
»Eben. Das ist ganz genau meine Meinung«, erwiderte Dr. Hasse. »Auf das Ergebnis kommt es an. Ich bin dem Eid des Hippokrates verpflichtet, und ich halte mich strikt daran. Für mich steht das Wohl meiner Patienten an oberster Stelle. Von Schleuben-Aumont ist nur an seinem eigenen Vorteil interessiert und eine Schande für den ärztlichen Berufsstand. Ich habe bereits mehrfach vergeblich gegen ihn interveniert. Die zuständigen königlichen Behörden und die Sächsische Ärztekammer können kein Fehl bei ihm entdecken, weil sie selbst involviert sind. Aber es gab bereits etliche Schwerkranke, die sterben mussten, weil ihnen die konventionelle Medizin verweigert wurde. Darüber hinaus weiß ich von mehreren verbürgten Fällen zu berichten, in denen sich Dr. Alexander von Schleuben-Aumont von Patienten, die längst dem Tode geweiht waren, noch kurz vor Toreschluss als testamentarischer Alleinerbe eintragen ließ.«
»So etwas kommt doch überall auf der Welt vor«, erwiderte ich. »Das mag zwar moralisch verwerflich sein, aber die Justiz hat keine Handhabe dagegen.«
»Sicherlich. Doch von Schleuben-Aumont handelt im höchsten Maße kriminell, wenn er den Sterbenden wider besseres Wissen Heilung durch ein Wundermittel verspricht. Doch das ist längst nicht alles.«
»Reden Sie weiter«, forderte ihn Holmes auf.
»Was ich jetzt sagen werde, vertraue ich Ihnen unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit an. Es sind auch lediglich Gerüchte, die sich schwer beweisen lassen. Aber es gibt ernstzunehmende Hinweise darauf, dass Dr. Alexander von Schleuben-Aumont ganz gezielt schwerreiche Patienten aussucht, die alleinstehend sind und keine Erben haben. Diesen bedauernswerten Menschen verabreicht er langsam wirkende Gifte wie zum Beispiel Hungerkorn, das im Brot verbacken wurde.«
»Meinen Sie mit Hungerkorn diesen Schmarotzerpilz, der die Form eines Roggen-, Weizen-, Gersten-oder Haferkorns annimmt und manchmal in Getreideähren steckt?«, fragte ich. »Bei uns wird er Mutterkorn genannt.«
»Ganz genau. Dieser Schmarotzerpilz
Claviceps purpurea
ist auch als Hahnenkamm bekannt und gehört zur Abteilung der Askomyzeten. Eine akute Vergiftung hat Durchfall, Atembeschwerden, Brustschmerzen, Taubheit der Extremitäten, Konvulsionen und Erbrechen zur Folge. Es kommt zu einer Verengung der Blutgefäße. Der Tod tritt durch Atemlähmung und Herzstillstand ein.«
»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis wollen wir den feinen Herren ein wenig unter die Lupe nehmen«, beendete Holmes das Gespräch. »Wir danken Ihnen zutiefst für die überaus wichtigen Informationen und werden Ihnen gerne zum gegebenen Zeitpunkt über den weiteren Verlauf der Ereignisse berichten.«
[ 1 ] Wird durch die Destillation vom Kohlenteer gewonnen und wurde auch als Holzschutzmittel eingesetzt.
[ 2 ] Apparat zur Erzeugung elektrischer Ströme durch Induktion.
6. Kapitel
Große Ungelegenheiten
»Ja, Watson. In meiner gesamten Laufbahn
habe ich dergleichen noch nicht erlebt.«
Jô Soares,
Sherlock Holmes in Rio
D AS S ANATORIUM
Aus den Aufzeichnungen von Dr. Watson
24.10.1913, Dresden
In Dresden gingen wir am Landungsplatz unterhalb des Brühlscher Gartens an Bord eines jener weißen Linienschiffe, die mehrmals täglich auf einer festen Route verkehrten, und fuhren mit ihm die
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