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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schüler
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eingestaubtenTopfpflanzen auf der Fensterbank kümmerten vor sich hin und schienen nur noch darauf zu warten, dass sie eine barmherzige Seele von ihrem traurigen Dasein erlöste. Auf einem wackeligen Tischchen lag ein Stapel zerfledderte Journale. Das Titelblatt der obersten Gazette berichtete von der Belagerung der Sidney Street im Londoner East End, wo sich Scharfschützen der Scots Guard ein Feuergefecht mit baltischen Anarchisten geliefert hatten. Das war am 3. Januar 1911 gewesen.
    Uns gegenüber hatte ein Mann von Anfang bis Mitte fünfzig in abgetragener Kutscherkleidung Platz genommen. Er würdigte die Zeitschriften keines Blickes. Wahrscheinlich hatte er sie bei früheren Besuchen längst ausgelesen. Seine Audienz dauerte keine fünf Minuten. Danach wurden wir bereits empfangen.
    Dr. Hasse war ein kleiner, kahlköpfiger Mann. Er trug ein tailliertes, weißes Leinengewand, das hinunter bis zu den Schuhen reichte. Sein Gesicht lief blaurot an, als er den Namen des Wunderheilers hörte. »Der Bursche ist eine Schande für die Wissenschaft. Er gehört hinter Gitter gebracht. Stattdessen residiert er in bester Lage auf dem Weißen Hirsch.«
    Ich erinnerte mich an die Prophezeiung der Zigeunerin. Auf dem Bahnhofsvorplatz von Mügeln hatte sie zu mir gesagt: Suchen Sie nach dem Hirsch, er wird Sie retten. Das war erst zwei Tage her. Mir kam es so vor, als wären seitdem mehrere Wochen vergangen.
    »Was ist das, der
Weiße Hirsch
?«, wollte Holmes wissen.
    Dr. Hasse erklärte: »Im Jahr 1685 erwarb der kurfürstliche Kapellmeister Christoph Bernhard einen Weinberg hier in der Nähe von Dresden und richtete dort eine Schänke ein. Er gab ihr den Namen
Der weiße Hirsch
. Im Laufe der Jahrhunderteentwickelte sich das Gebiet zu einem Ausflugsort. 1838 entstand daraus die Landgemeinde Weißer Hirsch. 1872 kaufte der Seifenfabrikant Ludwig Küntzelmann in dieser Gegend alle größeren Ländereien auf, parzellierte sie und begründete eine ›Colonie der Villen und Sommerfrische‹. Das war für die damalige Zeit eine revolutionäre Idee gewesen. Es wurden Bäume gepflanzt, Spazierwege angelegt und Bänke aufgestellt. Alle rauch-und lärmbelästigenden Anlagen waren verboten. 1875 erhielt der Weiße Hirsch den Namenszusatz ›klimatischer Kurort‹. Zwölf Jahre später eröffnete der Arzt und Naturheiler Dr. med. Heinrich Lahmann das erste Sanatorium. Es erlangte in kürzester Zeit Weltruhm und wurde jährlich von bis zu siebentausend Patienten aufgesucht. Das Klientel war mehr als wohlhabend. Bald gehörte es zum guten Ton, auf dem Weißen Hirsch zu kuren. Weitere Sanatorien folgten.«
    Holmes unterbrach: »Was dann passierte, liegt auf der Hand, denn Geld zieht Geld an. Der Ort entwickelte sich zu einer gehobenen Wohngegend.«
    »Stimmt genau. Viele Künstler, Wissenschaftler, Fabrikanten und hohe Staatsbeamte residieren dort. Sie sorgten dafür, dass der Weiße Hirsch kurz vor der Jahrhundertwende an das Dresdener Straßenbahnnetz angebunden wurde.«
    Holmes nickte. »Nun kann ich mir in etwa ein Bild vom Weißen Hirsch machen. Auf welche Weise kam Dr. Alexander von Schleuben-Aumont ins Spiel?«
    »Der berühmte Lungenspezialist Prof. Dr. Wilhelm Bruchelt, Präsident der Sächsischen Ärztekammer und Mitglied im Reichs-Ärztekammerausschuss, hatte vor rund zehn Jahren auf dem Weißen Hirsch mehrere zusammenhängende Parzellen in einer Gesamtgröße von einigen Hektar erworben. Die darauf befindlichen Villen ließ er zu einer Lungenheilstätteumbauen, die inzwischen aus fünf separaten Häusern besteht. Vor etwa drei Jahren trat dort Dr. Alexander von Schleuben-Aumont eine Stelle als Oberarzt an. Er kam auf Empfehlung des bekannten Tabakfabrikanten Ray Morti. Ich hatte mich auch beworben, fand aber keine Berücksichtigung. Professor Bruchelt, der inzwischen das siebzigste Lebensjahr vollendet hat, zog sich nach und nach aus dem Alltagsgeschäft zurück. Er repräsentiert nur noch. Seinen Platz als Klinikdirektor nahm sein neuer Intimus ein. Von Schleuben-Aumont änderte nach und nach das Konzept. Er begann wissenschaftlich anerkannte, medizinische Methoden mit okkulter Quacksalberei zu verquicken. In einem nächsten Schritt öffnete er das Sanatorium für die Heilbehandlung aller möglichen anderen Krankheiten. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, sind die Erfolge sensationell.«
    »Wie ist das möglich?«, wollte ich wissen. »Beispielsweise gibt es gegen die Tuberkulose keine spezifischen Medikamente.

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