Sherlock Holmes in Dresden
lag über dem Besucherstuhl. Zweigraue Filzpantoffeln, die unter meinem Bett neben dem Nachttopf standen, vervollständigten das Ensemble.
»So sind hier nun mal die Vorschriften. Und wem das nicht passt, der kann gerne wieder gehen«, hatte mir die ruppige Oberschwester bei der Aufnahme mitgeteilt. Sie war eine stämmige Frau jenseits der fünfzig, die sich an einem dichten, schwarzen Flaum auf der Oberlippe erfreuen konnte.
Glücklicherweise hatte Holmes die strenge Kleiderordnung vorausgesehen. Die meisten Patienten auf dem Gelände trugen nämlich einheitliche Krankenhauskittel. In meinen Taschen war nichts von Wert zurückgeblieben. Holmes musste außer seiner persönlichen Habe nun auch noch meinen Revolver, den Knotenstock, die goldene Uhr und meine Brieftasche mit sich herumschleppen.
Bis auf den Umstand mit der Kleiderkammer, der mich reichlich irritierte, war bei der Aufnahme alles glattgegangen. Ich hatte mich auf eine Empfehlung der Freiin von Dombusch berufen. Das war noch nicht einmal gelogen gewesen. Schließlich hatte ich erst durch sie von der Existenz dieses Sanatoriums erfahren. Als ich mein Krankheitsbild beschreiben sollte, gab ich vor, an starken Schüben von Schwermut, anfallartigen Kopfschmerzen, zeitweiligem Herzrasen und Blutanwallungen zu leiden, wobei letztere mit Schwindelanfällen, Angstgefühl und Beklemmung einhergingen.
Aufgrund dieser Symptome hatte ich einen Platz im
Haus Sonnenschein
zugewiesen bekommen. Pro Tag kostete mich der Aufenthalt einhundert Mark. Das war so viel, wie ich als Butler im Monat verdient hätte. Ich musste eine Woche im Voraus bezahlen.
Nun lag ich im Bett und langweilte mich. Zum Abendbrot vor gut zwei Stunden hatte es eine Auswahl jener Speisen und Getränke gegeben, mit denen in allen Spitälern der Weltdie Kranken gequält werden, nämlich ungewürzten Haferschleim, eine Scheibe altbackenes Weißbrot ohne Belag und wahlweise eine Kanne Pfefferminz-oder Kamillentee.
Um acht Uhr am Abend erschien die schnurrbärtige Oberschwester noch einmal bei mir im Zimmer. Sie fühlte den Puls, steckte mir ein Fieberthermometer in den Mund und notierte die Ergebnisse auf einem Krankenblatt.
»Morgen wird ein schwerer Tag für Sie werden, mein lieber Herr Woodland. Sie müssen eine ganze Reihe von Untersuchungen über sich ergehen lassen. Zuerst werden Sie zur Ader gelassen. Das Blut erfährt nämlich bei vielen Krankheiten tiefgreifende Veränderungen, die unter dem Mikroskop sichtbar gemacht werden können. Anschließend haben Sie Konsultationen bei verschiedenen Ärzten. Es geht um die Anamnese. Dazu müssen Sie über die Vorgeschichte Ihrer Krankheiten sprechen. Bitte versuchen Sie sich zu erinnern, wann Sie die ersten Symptome Ihrer zahlreichen Leiden bemerkt haben. Außerdem werden Sie gemessen, gewogen und müssen einige gymnastische Übungen vollführen. Danach erwartet Sie ein reichhaltiges Frühstück, und zwar Roggenspelze in Milchrahm, zwei leckere Lauchstangen und ein nahrhaftes Sellerieschnitzel. So, nun habe ich aber genug versprochen.« Mit diesen Worten reichte sie mir ein dickwandiges Pressglas, in dem eine ölige, braune Flüssigkeit schwappte. »Das ist Ihr Schlummertrunk, Herr Woodland. Er riecht und schmeckt zwar etwas streng, aber eine süße und angenehm duftende Arznei hilft bekanntlich nicht.«
Ich wehrte ab. »Vielen Dank, ich leide zwar unter vielen Übeln, aber die Schlaflosigkeit zählt bislang nicht dazu.«
»Papperlapapp«, meinte die Oberschwester. »Hier habe ich das Kommando. Runter damit, sonst werde ich ungemütlich.«
Ich gab meinen schwachen Widerstand auf, setzte das Glas an die Lippen und trank es in einem Zug aus. Eine feurige Kugel sauste mir den Schlund hinab. Es brannte fürchterlich. Dann folgte ein jäher, völlig unerwarteter Brechreiz, dem ich nicht standhalten konnte. Der halb verdaute Haferschleim und der Kamillentee klatschten im hohen Bogen auf den Fußboden.
Plötzlich konnte ich nicht mehr schlucken. Ich wollte etwas sagen, aber es ging nicht. Dann begannen starke Muskelkrämpfe. Die Schmerzen wurden schier unerträglich. Aber ich blieb bei vollem Bewusstsein. Trotzdem ich Arzt war, verstand ich nicht sofort, was mit mir vorging.
Die Krankenschwester beobachtete mich amüsiert. »Das gefällt mir ausgezeichnet. Sie arbeiten sehr gut mit, mein lieber Dr. Watson. Nur keine falsche Scham. Das kann jedem passieren. Ich wische nur rasch die Schweinerei auf, die Sie hier eben verursacht haben. Gleich danach
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