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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden
Autoren: Wolfgang Schüler
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ausgestattete Mutterkorn. Ich kenne keinen Menschen, der immun dagegen wäre. Ein Kerl wie ein Baum wirddavon ebenso umgehauen wie ein kleiner Fettsack. Lediglich die richtige Dosierung stellt ein Problem dar. Sie ist abhängig von vielerlei Faktoren wie Alter, Körpergewicht und physischer Verfassung des Probanden. Wird zu wenig von der Substanz verwendet, führt das nur zu Übelkeit und Erbrechen, aber nicht zur vollständigen Paralyse. Ein Quentchen zu viel tötet durch Atemlähmung. Ich hoffe, ich habe mich in Ihrem Fall nicht in der Dosis geirrt. Es gibt nämlich kein Antidotum. [ 5 ] Aber keine Sorge, in drei, vier Stunden wissen wir mehr. Dann können Sie entweder wieder die Nase rümpfen und mit den Fingern schnipsen oder Sie betrachten die Radieschen von unten. Die Chancen stehen halbe-halbe. Aber nun hilft es alles nichts, ich muss los. Es war wirklich nett, mit Ihnen zu plaudern. Und falls wir uns nicht noch einmal sehen sollten, richten Sie bitte Professor Moriarty droben im Himmel meine herzlichsten Grüße aus. Bestellen Sie ihm, dass sich sein Erbe in den besten Händen befindet.«
    Ich blieb allein in meinem Bett zurück. Ich konnte überhaupt nichts machen. Ich musste mich in mein bitteres Schicksal fügen. Coniin ist ein klassisches Gift, mit dem im Altertum Verbrecher und politische Gegner hingerichtet wurden. Das prominenteste Opfer, welches in grauer Vorzeit zum Schierlingsbecher greifen musste, war der Philosoph Sokrates gewesen.
    Ich horchte in mein Inneres, ob sich die Muskelkrämpfe verstärkten.
    Die Tür flog auf und knallte gegen die Wand. Colonel Moran trat ein. Anders als auf dem Leipziger Hauptbahnhof trug er diesmal einen weißen Arztkittel und ein Stethoskop. Mein Erzfeind sagte kein Wort. Er zog sich den Stuhl heran, setzte sich neben die Bettkante und zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte ein metallisch glänzendes Pappmundstück.Ich konnte die Marke erkennen. Es war eine
Morti-Gold
. Colonel Moran rauchte genussvoll drei, vier Züge. Die Asche streifte er in der Steinguttasse mit dem Rest Kamillentee ab. Dann riss er mir das Nachthemd auf und drückte die glühende Zigarette auf meiner Brust aus. Die Empfindung war unglaublich stark und äußerst intensiv. Die Folter überlagerte sogar die Schmerzen in meiner Speiseröhre und in den Muskeln. Der Geruch von verbranntem Haar und verschmortem Fleisch stieg mir in diese Nase. Doch ich konnte noch nicht einmal röcheln.
    »Willkommen in der Hölle, Doktor. Jetzt kann Sie nichts und niemand mehr retten. Sie werden langsam und elend zugrunde gehen. Ich wollte Ihnen aus Barmherzigkeit die Kehle durchschneiden, aber der Boss hat es mir untersagt. Die Zigarette eben war übrigens die Revanche für den Streifschuss, den Sie mir vor fünf Tagen auf dem Leipziger Hauptbahnhof beigebracht haben.«
    Ich merkte, wie mir der letzte Rest Leben aus den Gliedern rann. Die Geräusche verstummten, das Licht wurde matter … und ich starb. Eine undurchdringliche Schwärze umgab mich, und dann spürte ich nichts mehr.
    [ 1 ] Verwandtschaft in absteigender Linie.
    [ 2 ] Der Klügere gibt nach.
    [ 3 ] Allein die Menge macht das Gift.
    [ 4 ] Sogenannte Maulsperre als Teil eines Starrkrampfs.
    [ 5 ] Gegenmittel, Gegengift

E NTFÜHRT
    Aus den Aufzeichnungen von Dr. Watson
    25.10.1913, Sächsische Schweiz
    Als ich erwachte, war ich – wie leicht vorstellbar ist – im ersten Moment sehr erleichtert. Lauter gute Nachrichten: Ich lebte noch. Es war nichts Schlimmes passiert. Ich hatte für einen Moment das Bewusstsein verloren gehabt. Es ging mir schon wieder viel besser. Ich konnte sogar den Kopf heben und husten. Nur an Armen und Beinen fühlte ich mich immer noch wie gelähmt.
    Nach einer Weile bemerkte ich, dass dies nichts mehr mit dem giftigen Schierlingsbecher zu tun hatte. Ich war tatsächlich wie ein Postpaket verschnürt worden. Wie ich im Halbdunkel sehen konnte, lag ich in einem Krankenwagen auf einer Pritsche. Jemand hatte mich mit breiten Lederriemen festgeschnallt. Ich vermutete, dass es Colonel Moran gewesen war.
    Der Krankenwagen fuhr mit hohem Tempo eine schlechte Wegstrecke entlang. Für meine Fixierung gab es also zwei Gründe. Der eine war zu meinem Schaden, der andere zu meinem Nutzen: Erstens wurde ich auf diese Weise an der Flucht gehindert. Zweitens konnte ich nicht von meiner Lagerstatt fallen. Es ging bergauf, bergab, um die Kurvelinks, um die Kurve rechts. Die Hartgummireifen rumpelten durch Schlaglöcher und pumpelten über
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