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Sherlock Holmes in Dresden

Sherlock Holmes in Dresden

Titel: Sherlock Holmes in Dresden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schüler
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Schulter gegen eine Tür zu werfen. In den meisten Fällen war ein Schlüsselbeinbruch die Folge – und die Tür blieb zu. Das lag ganz einfach daran, dass der höchste Teil der Vordergliedmaßen, also der Rand des Oberarmknochens und des Schulterblattes, für solche Aufgaben nicht konstruiert war.
    Ein kräftiger Fußtritt eignete sich wesentlich besser dazu, eine Tür einzutreten. Die schwächste Stelle war das Schloss. Es wurde von einfachen Schrauben gehalten. Außerdem war das Holz viel dünner. Ein gezielter Kick dagegen konnte einiges bewirken. Doch ich besaß keine Schuhe. Mit bloßen Füßen sollte in solch einem Fall nur ein Kenner asiatischer Kampfsportarten aktiv werden. Es gab noch einen weiteren Grund. Durch das hintere Fenster konnte ich sehen, dass der Eingang von außen mit einer stabilen Eisenstange gesichert worden war. Da hätte ich lange davortreten können.
    Der Boden und die Seitenwände waren massiv. Durch das Fenster hinten sowie die Luke vorn hätte noch nicht einmal ein Kind hindurchgepasst. Aber eine Schwachstelle gab es mit Sicherheit doch, nämlich das Dach. Es sah nicht sehr widerstandsfähig aus. Ich legte mich rücklings auf die Pritsche und trat mit dem rechten Fuß gegen die Decke, zuerst vorsichtig, dann immer kräftiger. Ich hatte Glück. Ich zog mir keinen Splitter ein, und die Bretter waren dünn. Das erste zerbrach. Sofort zog es kalt von oben herein. Ich machte weiter. Über mir sah ich den Sternenhimmel. Bald war die Öffnung groß genug. Ich kletterte durch das Loch hinaus. Mein Nachthemd war zerrissen und blutbefleckt. Ich hatte keinen Mantel, keinen Schal, keinen Hut und keine Schuhe.
    Colonel Moran war tatsächlich mausetot. Ich konnte keinen Puls fühlen – aber auch kein Bedauern. Ganz im Gegenteil, mich durchströmte ein Gefühl der Erleichterung.
    Ich begann den Toten teilweise zu entkleiden. Wie sich bald herausstellte, war es vergebliche Mühe gewesen. Mit seinen Sachen konnte ich nichts anfangen. Sowohl die Jacke als auch die Schuhe waren zwei Nummern zu klein für mich. Seine Hose hätte ich ohnehin nicht verwenden können. Eine der ersten Folgen des Todes war immer, dass sich der Darm und die Blase entleerten.
    Aber nicht alles war unbrauchbar. In den Taschen des Toten fand ich einen geladenen Revolver, Streichhölzer und eine halb volle Schachtel
Morti-Gold
. Eine gute Zigarre wäre mir lieber gewesen. Aber so rauchte ich erst einmal eine Zigarette. Auf meinen leeren Magen wirkte sie wie ein Schlag in die Magengrube. Mir wurde für einen Moment schwindlig, und ich stellte leichte Kollapssymptome fest. Doch dann schoss der Nikotinschub durch meine Adern, und ich wurde in eine euphorische Stimmung versetzt. Natürlich hatte ich auch allen Grund dazu, wieder frohen Mutes zu sein, denn ich war zum zweiten Mal in nur einer einzigen Nacht dem Tod von der Schippe gesprungen.
    Ich überlegte, was ich tun sollte. Es wäre höchst unklug, sich länger in der Nähe des Unfallwagens aufzuhalten. Ich musste ein Quartier für die Nacht auftun. Aber ich wusste nicht, wo ich mich befand. In diesem Moment hörte ich das Knacken von Zweigen. Schwere Schritte kamen direkt auf mich zu. Ich konnte nichts sehen, weil der Mond von einer Wolke bedeckt wurde. Jemand atmete schwer. Ich hob den Revolver. In diesem Moment brach der Mond durch die Wolken. Vor mir stand ein Hirsch mit kapitalem Geweih und blies mir durch die gebleckten Nüstern seinen Odem mittenins Gesicht. Zwei, drei Sekunden lang sahen wir uns schweigend in die Augen. Dann sprang der Hirsch beiseite und verschwand ins Unterholz.
    Ich nahm mit, was ich tragen konnte, und kämpfte mich durch das Gesträuch, bis ich an eine Lichtung kam. Dort schlug ich mein Lager auf. Ich zählte meine Habseligkeiten: Ich besaß eine Wolldecke, eine Wasserflasche, einen Kasten mit Verbandsmaterial, einen Revolver, Zigaretten und Streichhölzer. In meinem zerrissenen Nachthemd war mir hundekalt. Nun hatte ich die Wahl. Ich konnte mich entweder der Gefahr aussetzen, entdeckt zu werden, oder jämmerlich erfrieren. Ich entschied mich für die erste Variante, sammelte etwas Holz zusammen und entzündete ein Lagerfeuer. Ich trank einen Schluck Wasser, rauchte eine Zigarette und rollte mich dann in die Decke ein. Den Revolver hielt ich fest umklammert.
    Bald darauf begann ich zu träumen. Ich wusste, dass es nur ein Traum sein konnte, denn ich fuhr in einer Kutsche durch London. Außerdem hatte ich diesen Traum so ähnlich schon einmal gehabt.

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