Sherlock Holmes - Sein letzter Fall und andere Geschichten
Zimmer gekommen. Die Gelegenheit war ihm günstig und er benutzte sie.«
Der Staatsmann lächelte. »Das liegt außerhalb meines Bereichs; Sie können recht haben.«
Holmes überlegte einen Augenblick. »Noch einen andern wichtigen Punkt möchte ich mit Ihnen besprechen«, sagte er. »Ich höre, Sie fürchteten, das Bekanntwerden dieses Vertrags möchte sehr ernste Folgen nach sich ziehen.«
Ein Schatten flog über Lord Holdhursts ausdrucksvolles Gesicht. »Die allerernstesten Folgen.«
»Und sie sind eingetreten?«
»Noch nicht.«
»Wenn der Vertrag zum Beispiel in das französische oder russische Ministerium des Äußeren gelangt wäre, so würde es Ihnen vermutlich zu Ohren gekommen sein.«
»Das steht zu erwarten«, sagte der Lord mit finsterer Miene.
»Da nun fast zehn Wochen vergangen sind und keine Aussprache erfolgt ist, so dürfen wir mit Fug und Recht annehmen, daß der Vertrag nicht ausgeliefert worden ist.«
Holdhurst zuckte die Achseln. »Es läßt sich doch kaum denken, Herr Holmes, daß der Dieb den Vertrag gestohlen hat, um ihn bei sich unter Glas und Rahmen aufzuhängen.«
»Vielleicht wartet er noch, um einen besseren Preis zu erzielen.«
»Wenn er noch lange wartet, wird er nur das leere Nachsehen haben. In wenigen Monaten ist der Vertrag kein Geheimnis mehr.«
»Ein höchst wichtiger Umstand«, sagte Holmes. »Der Dieb könnte ja plötzlich von einer Krankheit befallen worden sein –«
»Zum Beispiel von einer Gehirnentzündung?«, fragte der Staatsmann, ihn mit raschem Blicke musternd.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Holmes voll unerschütterlicher Ruhe. »Aber wir dürfen Ihre kostbare Zeit nicht allzu lange in Anspruch nehmen, Lord Holdhurst; erlauben Sie, daß wir uns empfehlen.«
»Ich wünsche Ihrer Untersuchung den besten Erfolg, mag der Verbrecher sein, wer er will«, sagte der Edelmann noch beim Abschied, während er uns bis zur Tür begleitete.
»Ein wackerer Herr«, meinte Holmes, als wir wieder auf der Straße standen; »aber es wird ihm nicht leicht, seine Stellung zu behaupten. Er ist nicht reich, und es werden viele Ansprüche an ihn gemacht. Du hast wohl auch bemerkt, daß er neubesohlte Stiefel trägt. – Nun will ich dich aber nicht länger von deiner eigenen Berufsarbeit abwendig machen, Watson. Heute unternehme ich sowieso nichts mehr, außer wenn ich Antwort auf meine Droschken-Anzeige erhalte. Einen großen Gefallen könntest du mir aber tun, wenn du mich morgen um dieselbe Zeit nach Woking begleiten wolltest.«
So fuhren wir denn am nächsten Morgen wieder zusammen nach Woking. Es war keinerlei Licht in das Dunkel gekommen, und Holmes hatte keine Nachricht auf seine Anzeige. Seine Gesichtszüge konnten so unbeweglich sein, wie die einer indianischen Rothaut, wenn es ihm gut dünkte; auch jetzt war ich außer stande, in seinen Mienen zu lesen, ob ihn die Lage der Angelegenheit befriedigte oder nicht. Unsere Unterhaltung drehte sich, soviel ich mich erinnere, um Bertillons treffliches Messungssystem 1 , und er rühmte das Verdienst dieses französischen Gelehrten in begeisterten Worten.
Wir fanden unsern Klienten noch in der Pflege seiner getreuen Wärterin; er sah jedoch weit besser aus als tags zuvor. Bei unserem Eintritt stand er vom Sofa auf und begrüßte uns lebhaft.
»Was bringen Sie mir?«, fragte er begierig.
»Nur Negatives, wie sich voraussehen ließ«, erwiderte Holmes. »Ich habe Forbes gesprochen, Ihren Oheim besucht und verschiedene Erkundigungen eingezogen, die zu etwas führen könnten.«
»Sie haben also nicht den Mut verloren?«
»Durchaus nicht.«
»Gottlob, daß Sie das sagen«, rief Fräulein Harrison. »Wenn wir nur Geduld behalten und die Hoffnung nicht aufgeben, muß die Wahrheit ja doch zuletzt an den Tag kommen.«
»Wir können Ihnen mehr mitteilen als Sie uns«, meinte Phelps, der wieder auf seinem Lager Platz genommen hatte.
»So – das ist mir lieb.«
»Ich habe heute nacht ein Abenteuer erlebt, das recht schlimm hätte ausfallen können.« Seine Miene wurde sehr ernst, und in seinen Augen war förmliche Angst zu lesen. »Wissen Sie«, fuhr er fort, »ich fange wirklich an zu glauben, daß ich der Zielpunkt einer gefährlichen Verschwörung bin. Nicht genug, daß man mir die Ehre abgeschnitten hat, jetzt trachtet man mir auch nach dem Leben.«
»Wahrhaftig?!«, rief Holmes.
»Es klingt unglaublich; meines Wissens habe ich auf der Welt keinen Feind. Aber nach der Erfahrung der letzten Nacht muß ich es
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