Sherlock Holmes - Sein letzter Fall und andere Geschichten
gerade die flauste Zeit im Jahre ist.«
»Vortrefflich«, sagte er mit wiedergewonnener guter Laune. »Dann wollen wir die Sache zusammen ergründen. Ich denke, wir suchen zuerst Forbes auf. Er kann uns wahrscheinlich über alle Einzelheiten unterrichten, die wir brauchen, bis sich herausstellt, von welcher Seite der Geschichte eigentlich beizukommen ist.«
»Hattest du nicht schon einen Anhaltspunkt?«
»Sogar mehrere. Aber erst bei genauerer Erkundigung wird sich finden, was sie wert sind. Zwecklose Verbrechen lassen sich am schwersten aufspüren. Doch dieses ist nicht zwecklos. Wer könnte Nutzen daraus ziehen? – Der französische Gesandte, der russische Gesandte und jeder, der einem von beiden den Vertrag verkauft, ferner Lord Holdhurst.«
»Lord Holdhurst!«
»Unmöglich ist es nicht, daß ein Staatsmann einmal in eine Lage gerät, die es ihm wünschenswert erscheinen läßt, wenn ein solches Schriftstück durch Zufall vernichtet wird.«
»Aber kein Ehrenmann wie Lord Holdhurst.«
»Ich spreche nur von einer Möglichkeit, die wir nicht aus den Augen lassen dürfen. Wir werden den edlen Lord noch heute sehen und erfahren, ob er uns etwas mitzuteilen hat. Inzwischen habe ich schon allerlei Schritte getan.«
»Schon jetzt?«
»Ja, ich habe auf dem Bahnhof in Woking an die Zeitungsredaktionen in London telegraphiert. Diese Anzeige hier wird in den Abendblättern erscheinen.«
Er reichte mir ein Blatt, das aus einem Notizbuch gerissen war und folgende, mit Bleistift gekritzelten Worte enthielt:
»Zehn Pfund Belohnung – Für Angabe der Nummer derjenigen Droschke, welche einen Fahrgast an der Tür des Ministeriums des Äußeren in der Charles Street oder nicht weit davon um dreiviertel auf zehn Uhr am Abend des 23. Mai abgesetzt hat. Näheres Baker Street 221 b.«
»Du glaubst also, daß der Dieb in einer Droschke vorgefahren ist?«
»Ich kann mich irren, doch das schadet nichts.
Wenn, wie Phelps versichert, weder im Zimmer noch auf dem Gang ein Versteck ist, so kann der Dieb nur von außen gekommen sein. Kam er aber bei so nassem Wetter von der Straße, ohne auf dem Linoleum, das bald nachher besichtigt wurde, Fußspuren zu hinterlassen, so hat er höchst wahrscheinlich eine Droschke benutzt. Ja, mir scheint, man kann mit Sicherheit auf eine Droschke schließen.«
»Du wirst wohl recht haben.«
»Das ist einer der Punkte, von denen ich sprach; vielleicht erfolgt etwas auf die Anzeige. Ferner die Glocke – sie spielt die bedeutsamste Rolle bei der Sache. Warum ist sie geläutet worden? Hat es der Dieb in frechem Übermut getan? Oder war jemand bei ihm, der dadurch das Verbrechen vereiteln wollte? Geschah es aus Zufall? Oder könnte es –?« Er versank wieder ganz in Nachdenken wie zuvor; mir aber, der ich jede seiner Stimmungen so genau kenne, wollte es fast scheinen, als sei ihm plötzlich eine neue Möglichkeit aufgegangen.
Gegen halb vier Uhr erreichten wir die Endstation, speisten rasch im Bahnhofrestaurant und fuhren sofort aufs Polizeiamt. Holmes hatte schon dorthin telegraphiert, und Forbes erwartete uns. Der kleine Mann bereitete uns einen sehr frostigen Empfang, sobald er hörte, was wir von ihm wollten; sein scharfes Fuchsgesicht nahm einen wenig liebenswürdigen Ausdruck an.
»Ich habe schon von Ihrer Methode gehört, Herr Holmes«, sagte er mit spitzem Ton. »Erst lassen Sie sich von der Polizei alle Auskunft geben, über die sie verfügt, und führen dann die Angelegenheit auf eigene Hand weiter, um die Beamten in Mißkredit zu bringen.«
»Im Gegenteil«, versetzte Holmes, »nur in vier Fällen von den letzten dreiundfünfzig, bei denen ich beteiligt war, ist mein Name überhaupt genannt worden; bei den übrigen neunundvierzig Fällen hatte man alles Verdienst der Polizei zugeschrieben. Sie können das nicht wissen, denn Sie sind noch jung und unerfahren; wollen Sie aber vorwärts kommen in Ihrem neuen Beruf, so werden Sie gut tun, gemeinsame Sache mit mir zu machen, anstatt mir entgegen zu handeln.«
»Einige Winke wären mir sehr willkommen«, sagte der Geheimpolizist in verändertem Ton. »Bis jetzt habe ich allerdings keine Lorbeeren bei dem Fall geerntet.«
»Was für Schritte haben Sie getan?«
»Wir haben den Türhüter Tangey überwacht. Bei der Garde hat er sich nichts zu Schulden kommen lassen, und es liegt nichts gegen ihn vor. Seine Frau ist aber eine schlechte Person. Vermutlich weiß sie mehr von der Sache, als es den Anschein hat.«
»Ist sie beobachtet
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